Wolfsruf
mir. Und der Graf … natürlich, ich verehre ihn, aber … er ist so weit weg, und ich fürchte … er hat mich vielleicht hierher geschickt, weil ich ihn … langweile.«
»Hört mal!«, sagte Zeke plötzlich und ersparte Scott damit eine Antwort.
Der Boden vibrierte leicht. In der Ferne, im Osten, ein metallisches Zischen - ein rhythmisches Schlagen - eine Rauchsäule
stieg schwankend hinter einem Hügel auf. Pfeifen, Räder ratterten.
»Da kommt sie«, kündigte Grumiaux an. Der Rauch wurde dichter. Scott hustete. Natalia Petrowna zog eine Augenbraue hoch, ihr Cousin zauberte ein Notizbuch aus seiner Manteltasche hervor und begann mit einem Bleistift darin zu kritzeln.
Der Schneepflug, der den Hügel umrundete - ein Eisenbahnwaggon, dessen Front wie eine riesige Schaufel geformt war -, sah aus wie ein gigantisches Bügeleisen auf Rädern. Schnee flog zu beiden Seiten in die Luft. Der Pflug wurde von einer hellblauen Lok mit zwei kleinen und zwei großen Rädern bergauf geschoben. Sie puffte ohrenbetäubend laut. Ein Mann schaufelte Holz vom Tender. Scott wollte gerade eine Bemerkung machen, als er die zweite Lok sah, welche die erste anschob, und eine dritte tauchte eben hinter dem Hügel auf - und dann noch eine und noch eine - wie die Glieder eines albtraumhaften Tausendfüßlers.
»Beeindruckend, nicht wahr?«, fragte Claude-Achille Grumiaux.
Die Russin wand sich. Scott legte kühn einen Arm um ihre Schulter und beruhigte sie: »Sie brauchen keine Angst davor zu haben.«
Aber sie stieß ihn zurück und ging zu ihrem Cousin, schrie ihn hysterisch auf Französisch an, trommelte mit ihren Fäusten gegen seinen Brustkorb.
»Was ist mit ihr?«, fragte Scott.
»Ich kann kaum verstehen, was sie sagt«, antwortete Zeke. »Irgend etwas ist markiert, glaube ich.«
»Markiert?«
»Glaub mir, diese Frau hat eine von diesen neumodischen Krankheiten, die nur reiche Leute kriegen.«
»Moment mal!«, rief Grumiaux. »Was ist das?«
Der Schneepflug kam näher. Er bewegte sich mühsam und stockend, gestoßen und geschoben von den Lokomotiven. Scott
sah, was Grumiaux meinte. Etwas klemmte oben in dem Pflug. Etwas Graues, Pelziges.
»Da steckt irgendein Tier drin!«, stellte Grumiaux fest.
Der Schneepflug hielt mit einem Zittern an. Ein paar Arbeiter liefen hin. Sie riefen Grumiaux etwas zu.
»Es ist ein Wolf … und eine Frau«, erklärte Grumiaux. Die fünf gingen hinüber.
Die Chinesen arbeiteten mit ihren Schaufeln. Grumiaux bahnte sich einen Weg hindurch. Dann drehte er sich um und sagte: »Madame, es ist vielleicht besser, wenn Sie sich den Anblick ersparen.«
» Je n’ai pas peur. Ich habe schon vieles gesehen, Monsieur Grumiaux, mehr, als Sie können vorstellen. Bitte, ich muss es sehen.«
Die Chinesen traten beiseite, und Scott, der neben der Russin stand, sah, was der Schneepflug ausgegraben hatte.
Grumiaux meinte: »Merkwürdig, er scheint die Frau gar nicht angegriffen zu haben …«
Es waren eine alte Frau und ein Wolf. Sie lagen, einander umarmend wie Liebende, eingehüllt in ein Büffelfell. Sie waren erfroren. Die alte Frau lächelte im Tode, und der Wolf hatte seine Schnauze gegen ihren Hals gepresst. Ein Bild des Friedens - die Frau und die Bestie.
»Scheiße!«, sagte Zeke. Er zog ein Messer heraus und kniete sich neben dem Tier nieder. »Ich glaub’, ich schneid’ ihm den Schwanz ab und kassiere noch mal einen Dollar.«
»Nein!«, fuhr Scott ihn so unvermittelt an, dass Natalia Petrowna sich umdrehte und ihn neugierig musterte.
Zeke hielt inne. Verlegen ergänzte Scott: »Ich meine, du hast ihn ja schließlich nicht getötet. Du hast keinen Anspruch auf die Prämie. Du könntest sie auch einem Chinesen überlassen.«
Er wollte Zeke nicht daran erinnern - vielleicht wusste Zeke es auch, wollte sich aber nicht daran erinnern lassen -, dass
ihnen die beiden, die Alte und die Wölfin, bereits begegnet waren.
Zweimal -
Grumiaux schlug vor, doch ein paar Meilen im Führerhaus einer Lokomotive mitzufahren. Vishnevsky stimmte sofort zu, da er seiner Cousine den grausigen Anblick nicht länger zumuten mochte. Sie quetschten sich in die vorderste Lok, die, sobald die Leichen entfernt worden waren, ihren Weg bergauf fortsetzte.
»Es ist sinnlos«, sagte Natalia. Es machte ihr nichts mehr aus, Russisch zu sprechen. Sie durften sich jetzt auf keinen Fall verraten. »Es ist vollkommen sinnlos. Das Land ist besetzt. Ich hatte sie schon gewittert, bevor ich sie gesehen habe. Dieses Land …
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