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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Eltern immer zum Skifahren nach St. Moritz mitgenommen, und als ich in Berkeley studierte, fuhr ich am Wochenende öfters mit meinen Freunden nach Colorado. Schnee war für mich etwas Schönes, etwas Aufregendes und Romantisches. Vor meinem Aufenthalt im Szymanowski-Institut hatte ich nicht geahnt, wie sehr einen der Winter gefangen nehmen, wie sehr er einen Menschen betäuben und aushöhlen kann, bis er einem die Seele gestohlen hat.
    Den ganzen Winter über verließ ich das Institut kaum. Den Morgen verbrachte ich mit Johnny Kindred und dem Tonbandgerät. Nachmittags zog ich mich in die Bibliothek zurück. Zweimal musste auf La Loges Anordnung hin Harvey mich bis nach Rapid City fahren, wo ich mir noch mehr Bücher besorgte und in den Mikrofilm-Archiven von Zeitungsredaktionen aus dem neunzehnten Jahrhundert stöberte.
    Abends arbeitete ich an meinem Buch. Ein- oder zweimal versuchte ich sogar, »Ein Mörderleben« wiederzuerwecken. Johnnys Erzählung war so einnehmend und so detailreich, dass ich - wenigstens während er erzählte - jedem seiner Worte gebannt lauschte. Und nachdem ich immer tiefer in den Archiven gegraben hatte, nachdem ich in all den gottverlassenen Ortschaften gewesen war, in denen seine Geschichte spielte, wurde es immer schwerer für mich, dies alles als bloße Hirngespinste eines Wahnsinnigen abzutun. Er zog mich mit Haut und Haar in seine Welt. Ich wollte Speranza sein. Ich hatte ihre Gedanken und ihre Träume rekonstruiert. Wenn Johnny von ihr erzählte,
ahmte er ihre Stimme und ihre typischen Bewegungen nach. Nachdem ich über ihre Träume geschrieben hatte, bekam ich sie selbst. Ich weiß nicht mehr, wo ihre Träume enden und meine beginnen.
    Preston ist nicht wieder aufgetaucht. Aber es gab kein Begräbnis, keine Notiz über eine verstümmelte Leiche in der Zeitung. Einmal fragte ich La Loge nach ihm, aber er antwortete nur so etwas wie: »Indianer sind so, müssen Sie wissen. Sie verschwinden manchmal einfach. Vielleicht ist er auf irgendeiner Traumsuche. Die Indianer machen ständig solche Sachen.«
    Manchmal denke ich an Preston. Sie sind alle so fest davon überzeugt, dass ich mir die ganze Geschichte nur eingebildet habe … dass ich im Fieberwahn war oder so. Johnny weiß etwas. Aber seit ich ihn angegriffen und ihm vorgeworfen habe, dass er Preston ermordet hätte, hat er kein Wort mehr über ihn verloren.
    Habe ich es tatsächlich nur geträumt?
    Ich habe eine Menge über die multiple Persönlichkeit gelesen. Dabei habe ich gelernt, dass die Patienten normalerweise ein Dutzend oder mehr verschiedene Persönlichkeiten aufweisen.
    Johnnys Fall scheint - wie alle anderen bekannten Fälle - auf schwere Misshandlungen in seiner Kindheit zurückzuführen zu sein. Wenn einem als Kind so grauenhafte Dinge widerfahren, dass man sie schließlich nicht mehr ertragen kann, dann ist es möglich, dass das Bewusstsein in lauter kleine Splitter zerspringt. Man weiß immer noch nicht, welche Ereignisse bei Johnny zur ersten Bewusstseinsspaltung geführt haben, aber die Ursachen für seine Krankheit liegen höchstwahrscheinlich in der frühesten Kindheit, lange bevor er Speranza Martinique und den Grafen von Bächl-Wölfling kennengelernt hatte. Ich möchte dieser Sache als Nächster auf den Grund gehen - und diesen Werwolf-Geschichten.
    Ich weiß es einfach nicht. Ich habe nicht gesehen, wie er sich
in einen Werwolf oder so verwandelt. Noch nicht. Aber wenn er spricht, kann man es sehen. Kann man es fühlen. Kann man es sogar riechen.
    Jonas Kay ist während der Interviews nicht wieder aufgetaucht. Nur einmal. Da brach er durch und erzählte mir von der Transformation in Wien und von dem kleinen Mädchen in der Kirche. Er krabbelte im Zimmer herum, heulte, winselte. Es war die anstrengendste Sitzung des ganzen Winters.
    Vor ein paar Tagen begann Johnny von der Reise nach Amerika zu erzählen. Er bestand darauf, dass La Loge das Zimmer verließ.
    Dann zog er eine Zigarrenkiste unter seinem Bett hervor, suchte darin herum und holte etwas heraus.
    »Mach die Augen zu«, sagte er. Er stand immer noch unter Hypnose. Er sprach mit der Kinderstimme.
    Ich schloss sie. Dann spürte ich seine Hände um meinen Hals - und etwas Kaltes. Ich öffnete die Augen wieder und sah mein Spiegelbild im Fenster neben seinem Bett. Er hatte mir eine Kette umgelegt - eine silberne Kette mit Cabochon-Amethysten, fünf an der Zahl, nicht ganz symmetrisch, in Tränenform. Ich erkannte die Kette aus seinen Erzählungen

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