Wolfsruf
wieder.
»Zu deinem Schutz«, flüsterte er. Er war ganz dicht bei mir. Ich hatte Angst, aber ich unterdrückte sie. Dann küsste er mich.
Es war ein beunruhigendes Gefühl. Seine Lippen sind alt und rissig. Wenn er Johnny Kindred ist, dann spricht er wie ein kleines Kind, und er ist ebenso sprunghaft und temperamentvoll, aber seine Lippen, seine Lippen - sind so verwittert. Und er sagte zu mir, immer noch mit dieser Fistelstimme: »Ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist. Als du weg warst, musste ich Jonas rauslassen. Ich glaube, Jonas hat eine Menge schlimmer Dinge angestellt. Aber jetzt bist du wieder da. Du hast dich gar nicht verändert. Wir können ganz von vorn anfangen.«
Ich habe immer noch Angst. Weil ich für den Bruchteil einer Sekunde seinen Kuss erwiderte. Obwohl ich wusste, dass er der Killer von Laramie war.
Ich muss fort von hier. Endlich wird es Frühling. Ich glaube, ich steige einfach in den Impala und fahre für ein paar Tage weg. Ich nehme die Nebenstraßen durch das Vorgebirge und nach Nebraska. Ich habe gehört, Omaha soll eine ziemlich aufregende Stadt sein, jedenfalls für hiesige Verhältnisse. Man hat dort sogar schon von den Beatles gehört.
Vielleicht finde ich die alte Fremont, Elkhorn and Missouri Valley Railroad. Ja, es hat sie tatsächlich gegeben. Sie wurde 1886 fertiggestellt. Aber sie war nur ein paar Jahre in Betrieb. Seltsam, dass ein angeblich Geisteskranker wie Johnny davon weiß. Und er hatte recht - sie wurde von der Chicago and Nordwestern Line aufgekauft. Aber ich konnte keine Anhaltspunkte dafür finden, dass ein österreichischer Graf versucht hätte, sie zu übernehmen. Es ist immer dasselbe: Ich kann alle Informationen ausgraben und feststellen, dass Johnny sich kein einziges Mal geirrt hat, und bin fast schon von seiner Geschichte überzeugt, aber sobald das Unnormale, Übernatürliche ins Spiel kommt und das psychisch Abweichende, sobald ich zum Kern, zum Angelpunkt vordringen will, an dem die ganze Geschichte aufgehängt ist, lösen sich plötzlich alle Beweise in Luft auf, und mir bleiben nur -
Träume.
Aber ich will doch endlich glauben, weil, weil -
In jedem gesunden und durchschnittlich vernünftigen Menschen steckt ein Kind, das sich wünscht, dass der Wolf Rotkäppchen verschlingt. Weil Rotkäppchen so ein langweiliges Ding ist, so eine verklemmte Gans, dass es ihr nur recht geschieht.
Ich benötigte ein paar Tage bis nach Omaha. Ich ließ mir Zeit. Die silberne Kette trug ich als Amulett. Ich nahm die Route zwanzig, der Schnee lag noch auf den fernen Hügeln, das hohe
Gras war so grün, dass man glauben konnte, es wäre künstlich, die Felder waren mit Yucca gesprenkelt, und Steinhaufen mit fast menschlichen Formen befanden sich zwischendrin - es war eine einsame Straße. Manchmal begegnete ich bis zu einer Stunde lang keinem Auto. Nach Sonnenuntergang hielt ich am Straßenrand an und legte mich schlafen. Niemand störte mich. Es war mir egal. Ich kämmte nicht einmal mehr mein Haar, meine Frisur war im Winter aus der Form geraten, und ich hatte mir einen Pagenschnitt zugelegt, weil mich die Geschichte so gefangen nahm, dass mir mein Aussehen vollkommen gleichgültig wurde.
Die Route 275 führte durchs Elkhorn Valley. Erst als ich ihn in der Abenddämmerung überquerte, die untergehende Sonne im Blick, wurde mir klar, dass der Elkhorn ein Fluss ist.
Omaha, das Tor zum Westen, Zwillingsstadt von Council Bluffs (das Tor nach Omaha): Ich stieg in einem Motel ab. Es war Nachmittag. Ich vermutete, dass ganz Omaha spätestens um sieben Uhr in Tiefschlaf fallen würde. Ich hielt es für das Beste, den Rundgang durch die Stadt sofort zu machen, also spazierte ich durch das Zentrum. Es war kalt, aber nirgendwo lag Schnee. Ich schlenderte die angebliche Hauptstraße auf und ab, an Andenkenständen, Antiquitätenläden und eklektischen Buchhandlungen vorbei, aber das Angebot war, um gnädig zu sein, nicht gerade mit Berkeley zu vergleichen.
Im Gebäude der Union Pacific Railway war ein eigenes Museum untergebracht, das aber bereits geschlossen hatte. Es gab auch einen Union-Bahnhof zehn Blocks weiter, und ich beschloss, da die Sonne bereits unterging, dorthin zu gehen.
Der Bahnhof war ein Art-déco-Klotz, weiß und spitz und pervers. Zum Großteil war er ebenfalls in ein Museum umgewandelt worden. Ich ging hinein und stand in einer riesigen, kathedralenartigen Halle. Niemand war zu sehen, außer einer Frau an einem Schalter, die nicht einmal
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