Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
niemals eingeholt. Ich glaube, nicht mal ein Spitzenleichtathlet hätte es mit ihr aufnehmen können.“
Ian wartete geduldig, bis ich zum Ende kam.
„Doch die interessanteste Begebenheit trug sich zu, als wir eines Abends nach Einbruch der Dämmerung einem Bären begegneten. Für gewöhnlich ergreifen Bären die Flucht, aber diese Bärin hatte Junge, und die kamen schnurstracks auf uns zugelaufen. Ohne nachzudenken, streichelte ich einen von ihnen, als die Mutter brüllend aus dem Wald stürzte. Urgroßmutter stellte sich schützend vor mich und … “
„Was?“, fragte Ian.
„Sie fauchte.“ Wieder hörte ich das Geräusch, das sie ausgestoßen hatte – es hatte wild und zornig geklungen. Die Bärin war wie angewurzelt stehen geblieben.
„Wie ein Panther?“, mutmaßte er.
Ich hatte vor jenem Tag nie einen Panther gehört, aber danach hatte ich in der Bibliothek recherchiert, im Internet. Ich hatte gesucht und gesucht, bis ich endlich eine Tonaufnahme fand; da hatte ich die Wahrheit erkannt.
„Ja“, bestätigte ich. „Sie fauchte wie ein Panther, und die Bärin ist mit ihren Jungen weggelaufen.“
„Wie hat deine Urgroßmutter dir das erklärt?“
„Gar nicht.“
„Gar nicht? Sie brachte dir nicht bei … ?“
„Ich wollte damals nichts darüber wissen, und als ich meine Meinung irgendwann änderte, war sie tot.“
„Grace.“ Er schüttelte enttäuscht den Kopf.
„Ich war ein Kind. Mein Vater warnte mich unentwegt, dass er meinen Besuchen bei ihr einen Riegel vorschieben würde, sollte ich anfangen, mich seltsam zu benehmen. Aber ich brauchte sie; ich konnte dieses Risiko nicht eingehen, darum tat ich, als hätte es diesen magischen Vorfall nie gegeben, und sie setzte mich nicht unter Druck.“
„Deine Urgroßmutter konnte auf die gleiche Weise auf ihre zweite Natur zugreifen, wie ich es kann. Das ist eine Gabe, die nicht jeder besitzt.“
„Ich ganz bestimmt nicht.“ Meine Finger umklammerten das Lenkrad, als ich in Quaties lange, zerfurchte Zufahrt einbog.
Und daran würde sich auch nie mehr etwas ändern, weil ich zu feige gewesen war, für das, was wichtig war, zu kämpfen. Und jetzt war es für alle Zeiten verloren.
„Nicht zwangsläufig“, wandte Ian ein. „Wie könnte man diese Abneigung zwischen dir und Elise anders erklären als mit einem typischen Hund-Katze-Konflikt?“
„Vielleicht mögen wir uns einfach nicht. Sie ist eine schreckliche Nervensäge.“
„Im Gegensatz zu dir?“
„Hey!“
„Du musst zugeben, dass deine gesellschaftlichen Umgangsformen ein wenig Politur vertragen könnten.“
Ich würde gar nichts zugeben, selbst wenn er recht hätte.
„ E-li-si behauptete, dass wir auf eine Weise mit dem Panther verbunden seien wie niemand sonst.“
„Sie hatte recht.“
„Aber sie starb, ohne mir zu zeigen, was ich tun muss.“
„Es könnte noch immer eine Möglichkeit geben, falls du Interesse hast.“
Der Wagen holperte auf Quaties Grundstück, und ich schaltete den Motor aus. „Würde dein Zauber bei mir wirken?“
Meine Stimme zitterte. Ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich wollte. Die Vorstellung, die Kontrolle über mich zu verlieren, etwas anderes zu werden, wenn auch nur zum Teil, machte mir höllisch Angst.
„Nein“, antwortete er.
Mir stockte vor Erleichterung der Atem, während mir gleichzeitig vor Enttäuschung das Herz schwer wurde.
„Ich habe Roses Aufzeichnungen noch nicht vollständig übersetzt. Aber wenn ich deine Urgroßmutter wäre, hätte ich das Geheimnis darin hinterlassen. Du hättest dann die freie Wahl, ob du darauf zurückgreifen willst oder nicht, doch sollte sie es nicht aufgeschrieben haben, ist es für immer verloren.“
Mich durchzuckte der Gedanke, ob dieses Geheimnis wohl der Grund war, warum sie aus dem Land der Dämmerung gekommen war. Ich hatte die Wölfin seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen, weshalb ich annahm, dass sie ihre Botschaft überbracht haben musste. Jetzt hätte ich nur noch gern gewusst, was es für eine Nachricht war.
„Ich kannte sie nicht“, sprach Ian weiter, „trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie einen derart entscheidenden Teil deines Erbes in Vergessenheit geraten lassen wollte.“
Das konnte ich auch nicht, aber ich musste dieses Problem auf später verschieben, weil in diesem Moment die Tür von Quaties Hütte aufging und jemand heraustrat.
Nicht Quatie, sondern eine sehr viel jüngere Frau. Die Ururenkelin, an deren Existenz ich gezweifelt hatte, war
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