Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
Urgroßmutter vertieft an seinem Schreibtisch saß. Ich umarmte ihn von hinten und küsste seinen Nacken. Geistesabwesend tätschelte er meinen Arm.
„Ich bin bald zurück“, versprach ich.
„Mmmm.“
Warum nur fand ich seine Zerstreutheit so niedlich? Wann immer mein Vater mich ignoriert, getätschelt oder anstelle einer Antwort nur vor sich hin gemurmelt hatte, war ich in Versuchung geraten, ihm böse Worte entgegenzuschleudern oder ihm gegen das Schienbein zu treten. Als Kind hatte ich mich oft genug dazu hinreißen lassen. Was erklären würde, warum er sich tunlichst bemüht hatte, mir aus dem Weg zu gehen.
Ich verließ die Praxis und tauchte ein in das strahlende Sonnenlicht, die schwüle Hitze eines typischen Sommernachmittags in Georgia. Ich ließ den Pick-up stehen und ging zu Fuß zum Rathaus. Als ich die Wölfin auf dem Bürgersteig entdeckte, blieb ich wie angewurzelt stehen.
Ich konnte den Asphalt hinter ihr nicht sehen. Die leichte Sommerbrise zauste das Fell des Tieres. Für mich sah es ziemlich körperlich aus. In mir wuchs die Besorgnis, dass dies ein echter Wolf sein könnte, als ein Touristenpärchen einfach durch die Erscheinung hindurchspazierte.
Der Wolf knurrte. Das Paar blieb stehen, guckte stirnrunzelnd nach unten, und die Frau schauderte sichtlich. „Komisch, ich habe plötzlich eine Gänsehaut“, stellte sie verwundert fest.
Ich wusste, was sie meinte.
Sie nickten mir lächelnd zu, erwähnten jedoch nicht, einen Wolf gesehen oder das geisterhafte Knurren gehört zu haben. Ich wartete, bis sie außer Hörweite waren, bevor ich die Wölfin fragte: „Und was jetzt?“
Sie lief ein paar Schritte nach Norden, blieb stehen und sah sich mit heraushängender Zunge zu mir um.
„Neue Probleme?“ Ich schaute zur Praxis. „Steckt Ian in Schwierigkeiten? Oder kommen Schwierigkeiten auf uns zu? Vielleicht aus nördlicher Richtung?“
Die geisterhafte Erscheinung flimmerte und löste sich auf.
„Ich hasse Botenwölfe“, schimpfte ich und trat mit dem Schuh gegen die Bordsteinkante. „Sie halten sich immer so verflucht vage.“
Ich ging weiter Richtung Norden, bis ich das Rathaus erreichte, dann betrat ich das kuppelartige Gebäude und machte mich unverzüglich an den Abstieg in den Keller.
In unserer Kindheit hatten Claire und ich diesen Ort immer gemieden. Als ich jetzt die dunkle, modrige Betontreppe hinabstieg, fiel mir auch wieder ein, warum. Damals hatte es dort von Spinnennetzen und Mäusen nur so gewimmelt.
Irgendjemand hatte kürzlich hier saubergemacht. Die einzigen Spinnweben hingen hoch oben in der Ecke, knapp unterhalb der von uralten Rohren überzogenen Decke. Ich lauschte nach den huschenden Geräuschen potenzieller Nagetiere, doch das Einzige, was ich hörte, war ein fernes Summen.
Das Untergeschoss hatte früher als Lager und zur Aufbewahrung von Reinigungsgeräten gedient, aber die alten Pappkartons und verrosteten Aktenschränke waren verschwunden, die schmutzigen Besen, Eimer und Wischmopps allesamt durch nagelneue ersetzt.
Auch die Beleuchtung war neu. Fluoreszierende Rechtecke strahlten auf die verwinkelten, labyrinthartigen Korridore herab. Ich folgte dem Summen bis zu einem alten Sturmkeller, der Zugang zur Straße hatte, da das Rathaus den Bewohnern der Innenstadt als Schutzraum vor Tornados diente. In diesem Zimmer, das inzwischen ein weiteres Büro inklusive Schreibtisch, Ablageflächen, Telefon und Fax zu sein schien, entdeckte ich Claire.
„Was ist denn hier los?“, entfuhr es mir.
Sie hörte auf zu summen und wirbelte zu mir herum. „Oh, hallo, Grace. Joyce und ich ziehen uns manchmal hierher zurück, um zu arbeiten, wenn es oben allzu turbulent zugeht.“
„Sollte irgendwann mal die Tornado-Sirene losgehen, wird euer Geheimnis entdeckt werden.“
Ihr Lächeln erstarb. „Dann müssten wir umziehen.“ Sie blickte sich um. „Was schade wäre, weil wir hier alle nötigen Anschlüsse haben.“
„Ja, das wäre wirklich ärgerlich.“ Ich wollte das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen und zu Ian zurückkehren. „Was ist so wichtig, dass ich in Draculas Gruft hinuntersteigen musste?“
Kaum waren die Worte heraus, krümmte ich mich innerlich. Was ein Witz hatte sein sollen, war in Anbetracht von Ians Informationen über seine Frau inzwischen zu real, um noch komisch zu sein.
„Ich habe hier unten aufgeräumt“, erklärte Claire. „Ist es dir aufgefallen?“
„Ja. Ganz zauberhaft. Das hast du gut gemacht. Jetzt komm zum
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