Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
zu probieren; er war alles, was ich hatte.
Da der einzige Neuzugang in der Stadt praktischerweise dieselbe Person war, die ich aus dem Wald hatte kommen sehen, nachdem der Wolf darin verschwunden war, die auch mit einer Adlerfeder im Haar in der Stadt aufgetaucht war und obendrein zugab, von einem Medizinmänner-Clan abzustammen, hatte ich eine ziemlich gute Idee, wo ich anfangen würde.
„Ist er ein Adler oder ein Wolf? “ , grübelte ich laut. Machte es einen Unterschied?
Wozu sollte ein Wer-Adler überhaupt gut sein? Ich verstand die Vorteile, die es mit sich brachte, ein Werwolf zu sein – sie waren schneller, klüger, stärker; sie verfügten über die Fähigkeiten von Wölfen, gepaart mit menschlicher Intelligenz und dem völligen Fehlen menschlicher Empathie. Werwölfe waren die perfekten Tötungsmaschinen.
Wenn also ein Mensch zum Adler würde, besäße er die Intelligenz eines Menschen, zusammen mit den Fähigkeiten eines Vogels. Und wenn schon. Sicher, der Adler galt den meisten Indianerstämmen, inklusive meinem, als großer, fürchterlicher Kriegsvogel. Was im Wesentlichen nichts anderes hieß, als dass er jeden anderen Vogel auf dem Planeten das Fürchten lehren konnte. Aber Menschen? Unwahrscheinlich. Worin lag dann der Vorteil?
Am besten sollte ich einfach einen fangen und ihn fragen.
Leider hatte es den Anschein, als wäre jeder andere Bewohner der Stadt auf denselben Gedanken verfallen – nicht, dass Walker ein Werwolf oder ein Wer-Adler sein könnte, sondern, dass sie ihn kennenlernen, mit ihm sprechen, ihn willkommen heißen wollten. Vor seiner Praxis herrschte dichtes Gedränge.
Ich wandte mich an den nächststehenden Zaungast, Hoyd Abernathy, Stadtratsmitglied und ehemaliger Bankpräsident. „Was ist denn hier los?“
Hoyd trat von einem Fuß auf den anderen, die wie üblich in Slippern steckten. Als Hoyd sich in den Ruhestand verabschiedet hatte, hatte er ein Anzugschuh-Freudenfeuer veranstaltet und trug seither ausschließlich bequeme Latschen. Meiner Meinung nach eine fabelhafte Idee.
„Die Leute haben das von der armen Ms Garsdale gehört“, sagte er mit einer düsteren Stimme. Für Hoyd war alles ein Vorbote drohenden Unheils. Häufig behielt er recht.
„Und?“, fragte ich.
„Sie wollen ihr die letzte Ehre erweisen, dem neuen Arzt danken.“
„Was hat er denn getan?“
„Er hat einer der Unseren in ihrer letzten Stunde der Not beigestanden.“
„Sie war bereits tot, als er eintraf“, wandte ich ein.
Hoyd zuckte mit den Schultern. Missmutig betrachtete ich die Menschenhorde, die vor mir Schlange stand.
Am liebsten wäre ich einfach in die Praxis marschiert und hätte Walker eine Silberkugel an den Kopf geworfen, aber wie es aussah, würde ich mich gedulden müssen.
Wahrscheinlich wäre es ohnehin klüger, das an einen privateren Ort zu verlegen. Was, wenn er mitten auf der Center Street explodierte? Wie zur Hölle sollte ich das erklären?
Besser, ich lud Walker heute Abend auf einen Willkommensdrink zu mir nach Hause ein. Nach unserem Kuss würde er das vermutlich als Anmache auffassen und mir, falls seine Reaktion heute Morgen irgendeinen Hinweis lieferte, eine Abfuhr erteilen – es sei denn, ich machte mir die Mühe, ihn höflich zu bitten.
Dumm nur, dass mir, seit man mich zum Sheriff gewählt hatte, die Geduld für höfliches Getue zusammen mit sämtlichen gesellschaftlichen Umgangsformen, die ich je besessen hatte, abhanden gekommen zu sein schien. Wobei die meisten, die mich kennen, an dieser Stelle argumentieren würden, dass ich überhaupt nie welche besaß. Vielleicht wäre eine schriftliche Einladung cleverer als eine mündliche.
Ich erhaschte durch das Gedränge einen Blick auf Walker, dessen langes, dunkles Haar einen reizvollen Kontrast zu seinem korrekten Anzug samt Krawatte bildete, und die Idee einer mündlichen Einladung bekam eine völlig neue Dimension.
Warum nur überkamen mich bei ihm immer wieder diese Anflüge von Verlangen? Der Mann könnte halb Wolf, halb Adler sein und damit hundert Prozent Monster.
Vielleicht lag genau darin die Anziehungskraft. Seit Jahren hatte ich nie mehr als ein flüchtiges Interesse an Männern aus Lake Bluff oder von außerhalb gezeigt, aber Walker, mit seinen Geheimnissen, seinen Widersprüchen, seinem emotionalen Ballast, faszinierte mich.
Ich kritzelte eine kurze Notiz, dann schob ich mich, mich amtlich gebend, durch die Menschentraube. Als ich mich endlich zur vordersten Reihe durchgekämpft hatte,
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