Wolfsschatten - Handeland, L: Wolfsschatten
war alles verstummt, jeder wunderte sich, warum ich hier war. Auch Walker war keine Hilfe; er musterte mich mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen und einer hochgezogenen Braue.
„Ich … äh … “ Verflixt. Ich konnte ihm nicht einfach mein Brieflein übergeben wie ein zehnjähriges Mädchen, das in den neuen Jungen an der Schule verschossen ist; genauso wenig konnte ich ihn unverblümt fragen, ob er mich heute Abend besuchen wolle, ohne mich genauso zu blamieren.
„Vielen Dank für die Hilfe heute.“ Ich streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie, und ich drückte ihm den Zettel in die Finger.
Nicht die leiseste Regung flackerte über sein Gesicht, als ich meine Einladung von mir zu ihm transferierte. Zweifellos war ihm so etwas schon früher widerfahren, was meine Beschämung noch steigerte.
„Gern geschehen.“ Ian ließ meine Hand los und steckte die seine beiläufig in die Hosentasche.
Ich wandte mich ab und nickte den Einheimischen zu, die, wie ich feststellte, durch Abgesandte aus sämtlichen Gesellschaftsschichten vertreten zu sein schienen – Alte, Junge, Reiche, Arme, Weiße, Farbige und Indianer – , wenngleich alleinstehende Frauen Mitte zwanzig das Gros bildeten. Ein neuer Mann in Lake Bluff … sie konnten einfach nicht aus ihrer Haut heraus. Wahrscheinlich dachten sie das Gleiche von mir.
Ich war keine verzweifelte alte Jungfer, die sich den attraktiven Neuzugang krallen wollte. Nein, das war ich nicht . Ich hatte ihn zu mir nach Hause eingeladen, um herauszufinden, wer er war.
Mann oder Bestie? Mensch oder Monster? Was, wenn er mich in Tiergestalt besuchen würde?
Ich zuckte im Geist mit den Schultern. Das würde es mir nur einfacher machen, ihn zu erschießen. Denn trotz meiner coolen Fassade, meiner grimmigen Entschlossenheit, Lake Bluff vor jeder Gefahr zu beschützen, war ich mir noch immer nicht sicher, ob ich in der Lage wäre, rein vorsorglich eine Silberkugel in einen Menschen zu jagen.
Den restlichen Tag über war ich sowohl mit den banalen Pflichten eines Kleinstadt-Sheriffs als auch mit den untypischen Aufgaben, die mit der Touristensaison und den Nachwehen eines höllischen Gewittersturms einhergingen, gut ausgelastet.
Ich schlichtete einen Streit zwischen Nachbarn, bei dem es um Hundekacke ging – sie besaßen beide einen Hund; woher zum Teufel wussten sie, wessen Vierbeiner in wessen Garten schiss, und welchen Unterschied machte es schon?
Ich hatte einen Fall von Ladendiebstahl (ein einheimischer Jugendlicher), einen Fall von Nötigung (ein Tourist) und vier Anrufe von ehemaligen Bewohnern, deren Angehörige seit dem Unwetter nicht ans Telefon gingen.
Als ich nach Hause kam, blieb mir noch eine Stunde bis zu dem vereinbarten Treffen mit Walker – falls er denn auftauchen würde. Auf meinem Anrufbeantworter war keine Nachricht, die das eine oder das andere bestätigte.
Ich fühlte mich heiß und verschwitzt – das Resultat eines tierisch warmen Tages in Georgia und der nicht vorhandenen Klimaanlage in dem alten Pick-up meines Vaters. Dieser Kombination verdankte ich es, dass ich müffelte, nicht zu vergessen dem kleinen Mädchen aus Michigan, das zu viel Eis gegessen, wie am Spieß gebrüllt und sich zu guter Letzt auf meine Uniform erbrochen hatte.
Die Dusche war himmlisch. Ich wusch mich zweimal mit parfümierter Seife und arbeitete Haarspülung bis in die Spitzen ein; anschließend stand ich entspannt unter dem lauwarmen Wasserstrahl und ließ meinen Körper berieseln.
Ich entschied mich für einen weiten, knöchellangen Baumwollrock und ein ebenso leichtes, fuchsienfarbiges Oberteil. Ich verzichtete auf Schuhe – ich hatte den ganzen Tag in Polizeistiefeln gesteckt. Mir blieb gerade noch die Zeit, zum Bach zu gehen und meine Füße hineinzutauchen.
Ich sah keinen Anlass, meine Waffe mitzunehmen – die Sonne stand noch hoch – , dafür stopfte ich für später ein bisschen Silber in meine Tasche. Ich hatte einen spontanen Gestaltwandler-Test im Sinn.
Kaum, dass ich den Garten verlassen und sich der Wald hinter mir geschlossen hatte, atmete ich den Duft von Gras, Blättern und Sonne tief in meine Lungen. Ich liebte Lake Bluff, aber hier, im Schatten der Berge, lag mein wahres Zuhause.
Winzige Tiere wuselten durch das Unterholz. In den Bäumen raschelten Vögel. Eine Schlange glitt durch das Falllaub und nahm schnell vor mir Reißaus.
Ich erreichte den Bach, hob den Rock und watete hinein. Die Kühle des Wassers war eine Wohltat für meine
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