Wolfstage (German Edition)
worden. Milan wollte
ihn da absetzen und über Sickte nach Braunschweig weiterfahren.«
Johanna hatte Mühe, ihre Kinnlade nicht herabsacken zu lassen.
»Haben Sie eine Vorstellung, warum Henrik den ganzen Tag nicht zu erreichen
war?«, fuhr sie schnell fort.
»Er hat sein Handy ausgeschaltet. Das macht er manchmal«, sagte
Helen Hildmann. Ihre Hände zitterten. Sie presste sie in ihrem Schoß zusammen.
Johanna wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. »Milan hatte sein
Handy nicht bei sich. Sie sagten bereits einem Kollegen, dass er normalerweise
nicht ohne Telefon unterwegs ist.«
»Richtig«, bestätigte Alexander nach einem besorgten Blick auf seine
Frau. »Vergessen hat er es auch nicht. Ich habe bereits in seinem Zimmer
nachgesehen und auch im Haus gesucht – Küche, Bad und so weiter. Muss man
nicht davon ausgehen, dass es gestohlen wurde? Sein Auto ist ja auch nicht
auffindbar.«
»Durchaus möglich, aber es ist verwunderlich, dass seine anderen
persönlichen Sachen nicht fehlen. Könnten Sie zulassen, dass ich einen Blick in
Milans Zimmer werfe?«
Alexander Hildmann zögerte, dann nickte er. »Aber bitte beeilen Sie
sich.« Sein Gesicht verzerrte sich abrupt, wie unter einem plötzlichen Krampf,
er wandte sich ruckartig ab und stand auf. »Kommen Sie.«
Milans Zimmer befand sich am Ende eines von der Diele abzweigenden
Flurs. Hildmann öffnete die Tür, an der ein großformatiges Poster von Peter Fox
hing, und betrat ein geräumiges und nicht gerade typisches Studentenzimmer.
Hochbett, Schreibtisch und Regale waren aus Pinienholz gefertigt,
Fernseher und Musikanlage genügten wahrscheinlich allerhöchsten Ansprüchen. An
den Wänden hingen einige Grafiken und großformatige Fotos von Pferden, die
Pflanzen waren gepflegt. In dem gut und gern dreißig Quadratmeter großen Raum
herrschte eine erstaunliche Ordnung.
Johanna konnte sich kaum vorstellen, dass Helen Hildmann nach der
Identifizierung ihres Sohnes sein Zimmer aufgeräumt oder jemanden beauftragt
hatte, für Ordnung zu sorgen, aber hundertprozentig sicher war sie nicht. Sie
hatte schon erlebt, dass Mütter und auch Väter genau das taten: Kleidungsstücke
zusammenlegen, Schreibtisch abwischen, Papierkorb leeren, Bücher in die Regale
stellen. Aber vielleicht war Milan auch einer von der seltenen Sorte junger
Mann gewesen, die Wert darauf legte, dass alles an seinem Platz war. So was
sollte es ja geben.
»Hatte Milan eine feste Freundin?«, fragte sie den Vater, nachdem
sie ihren Blick hatte schweifen lassen.
»Zurzeit nicht.«
»Ich brauche eine Liste mit seinen Freunden …«
Hildmann drehte sich zum Schreibtisch um und schaltete den PC ein.
»Am besten, ich drucke Ihnen die Liste der Kontakte in seinem
Mailprogramm aus. Sie werden sich da leicht zurechtfinden. Milan ist … war
sehr ordentlich. In allem, was er tat.«
»Ja, das sieht man. Wie war eigentlich das Verhältnis zwischen den
Brüdern?«
»Mittelmäßig, würde ich sagen.« Hildmann fuhr sich durchs Haar und
schluckte. »Hören Sie, Frau Kommissarin, ich weiß kaum noch, was ich erzähle.
Es ist besser, wenn Sie …«
Johanna nickte. »Ja, ich verstehe. Eine letzte Bitte für heute: Wir
brauchen ein aktuelles Foto von Milan.«
Der Drucker summte leise und warf mehrere Blätter in beeindruckender
Geschwindigkeit und Qualität aus. Hildmann reichte sie ihr, ohne sie anzusehen.
»Ich suche gleich eins heraus. Sehen Sie sich in der Zwischenzeit
einfach noch ein bisschen um«, sagte er mit rauer Stimme. »Henrik dürfte jeden
Moment kommen. Mit dem werden Sie ja wohl auch sprechen wollen. Ich muss erst
mal nach meiner Frau sehen.«
»Natürlich.«
Johanna wandte sich zum Kleiderschrank um, als Hildmann das Zimmer
verlassen hatte. Auch hier herrschte eine fast penible Ordnung, durchweg
Markenklamotten, Wohlstand im Überfluss. Sie schloss die Schiebetür und sah zum
Fenster hinaus. Blick in den Garten. Verträumt, wenn man sich die Zeit zum
Träumen nahm. Ein sorgfältig beschnittener Apfelbaum umgeben von sattem Grün.
Hinter ihr knarzte die Tür. Alexander Hildmann reichte ihr ein Porträtfoto
und zog sich wieder zurück. Wortlos. Johanna betrachtete das Bild. Ein blonder,
blauäugiger Lockenkopf lächelte ihr entgegen. Typ Strahlemann und
Herzensbrecher. Sie war froh, als das Handy vibrierte. Eine Braunschweiger
Nummer.
»Reinders hat mich informiert«, sagte Annegret Kuhl, kaum dass
Johanna sich gemeldet hatte. »Ist ja richtig was los bei Ihnen.«
»So kann man
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