Wolfstage (German Edition)
es auch ausdrücken.«
Kuhl räusperte sich. »Ich habe gleich mal im Labor nachgehakt. Es
konnten Spuren an dem Pfeil gesichert und bereits analysiert werden. Spuren von
Blut. Tierblut.«
»Lassen Sie mich raten: von Wölfen?«
»Unter anderem. Aber auch von Füchsen und Rotwild.«
Ich fasse es nicht, dachte Johanna, die verrückte Funke hat recht
gehabt.
»Sprachlos?«
»Manches verschlägt auch mir kurzzeitig die Sprache«, gab Johanna
zu.
»Die Leiche des jungen Mannes befindet sich ja inzwischen im gerichtsmedizinischen
Institut in Hannover, dort werden unter Hinzuziehung eines Veterinärmediziners
auch die Kadaver untersucht«, erläuterte Kuhl weiter. »Ich bin dafür, den Pfeil
ebenfalls dem Institut vorzulegen, damit alles in einer Hand ist.«
»Gute Idee«, lobte Johanna.
»Finde ich auch.«
»Da wir gerade so nett plauschen, Frau Kuhl – sagt Ihnen das
Stichwort Tagungsstätte Reitlingstal etwas? Und ist Ihnen in dem Zusammenhang
schon mal ein Dozent namens Markus Taschner über den Weg gelaufen?«
»Auf Anhieb fällt mir dazu nichts ein. Sollte es?«
»Tja, mal gucken. Unter Umständen hatte Wiebor ein Auge darauf
geworfen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»In seinem Zimmer lag ein ganzer Stapel regionaler Wochenblätter
herum. Da er nach Auskunft eines BKA -Kollegen,
mit dem er häufig zusammengearbeitet hat, so gut wie nie Zeitung liest, habe
ich mir das Ganze mal genauer angesehen. Dabei stieß ich auf mehrere Anzeigen
der Tagungsstätte sowie auch des Kosmetikladens von Eva Blum, der besten
Freundin der verschwundenen Kati Lindner. Wiebor hatte sie mit einem Stift
markiert.«
Kuhl schwieg.
»Außerdem wurde die Leiche des jungen Mannes heute nicht weit vom
Reitlingstal entfernt gefunden – ungefähr anderthalb Kilometer –, die
Höhle befindet sich ebenfalls in der Nähe.«
»Hm, nun gut, aber das muss nicht unbedingt –«
»Nein, nicht unbedingt, aber das Reitlingstal scheint dennoch eine
gefragte Gegend zu sein, in welchem Zusammenhang auch immer: Der Bruder des
Opfers, Henrik Hildmann, mit dem ich gleich sprechen werde, wohnt und arbeitet
in der Tagungsstätte – zufälligerweise oder auch nicht«, schnitt Johanna
der Staatsanwältin das Wort ab.
»Oh.«
»Das finde ich auch. Ich habe bereits eine Kollegin aus Berlin um Recherchen
gebeten. Mit den ersten Infos rechne ich spätestens morgen.«
»Gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Erst mal viel Erfolg
weiterhin.«
Johanna beendete das Gespräch, im gleichen Moment vernahm sie
Stimmen in der Diele. Sie sah auf die Uhr. Zehn Minuten sollten nur der Familie
gehören. Das war das Mindeste. Sie hörte die Hildmanns nur von fern, und sie
war dankbar dafür. Sie nutzte die Zeit, um Schuster anzurufen und ihm einige
Namen von Milans Kontaktliste durchzugeben.
»Ich möchte noch heute mit mindestens zwei Leuten aus Milans
Freundeskreis sprechen.«
»Ich versuche, das hinzukriegen.«
»Davon bin ich überzeugt.«
Sie steckte das Handy ein und wandte sich zum Schreibtisch um. Der PC war noch eingeschaltet. Johanna biss sich auf die
Unterlippe. Sie hatte keinerlei Befugnis, Milans E-Mail-Postfach zu überprüfen,
schon gar nicht ungefragt, andererseits … Johanna zögerte kurz, gab dann
der Maus einen Schubs, und der Bildschirmschoner verschwand. Sie wollte gerade
den Outlook starten, als sich Schritte näherten, und trat rasch beiseite.
Alexander Hildmann öffnete die Tür. »Bitte kommen Sie mit. Sie
können jetzt mit Henrik sprechen.«
Henrik wirkte wie ein perfekter Gegenpol zu seinem Bruder.
Beim Vergleich mit dem Foto von Milan wäre Johanna kaum auf die Idee gekommen,
dass sie zwei junge Männer aus einer Familie, geschweige denn Brüder vor sich
hatte. Henrik saß auf dem Sofa und machte keinerlei Anstalten, aufzustehen, um
die Kommissarin zu begrüßen, sondern blickte ihr schweigend entgegen. Seine
Eltern hatten sich zurückgezogen.
Umbruch, dachte Johanna und war erstaunt, dass ihr dieser Ausdruck
zuflog, als sie Henrik musterte, während sie sich zu ihm setzte. Ein Gesicht,
das zugleich älter und jünger wirkte als Mitte zwanzig. Johanna konnte nicht
erklären, warum. Reste von Akne unter Bartschatten, große dunkle Augen in einem
kantigen Gesicht, kurzes strähniges Haar. Selbst im Sitzen wirkte er schlaksig
und mager. Und vollkommen erschöpft. Sie stellte sich jemanden, der bis zum
Nachmittag geschlafen hatte, ausgeruhter vor. Die Nachricht vom Tod seines
Bruders hatte ihn offensichtlich völlig aus der Bahn
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