Wolfstage (German Edition)
geworfen.
»Ich bin die leitende Kommissarin Johanna Krass«, sagte sie.
»Ich weiß.« Seine Stimme klang überraschend weich.
»Trotz der für Ihre Familie so schweren Stunden muss ich Ihnen
einige Fragen stellen.«
»Das ist mir klar.«
»Sie sind gestern mit Ihrem Bruder zusammen in Richtung Braunschweig
aufgebrochen. Was ist passiert?«
Henrik hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Nichts –
nichts, was ungewöhnlich gewesen wäre. Milan hat mich zu Hause abgesetzt und
ist sofort weitergefahren. Ich habe keine Ahnung, was vorgefallen sein könnte.«
»Sie wohnen im Reitlingstal?«
»Ja, und ich arbeite dort auch. Als Kaufmann für Bürokommunikation.«
Er mag den Job, dachte Johanna. »Was hatte Milan vor? Wo wollte er
hin?«
»In irgendeine Kneipe, keine Ahnung, welche.«
»Er hat keine Einzelheiten erzählt?«
»Nein.«
»Und wie haben Sie den Abend verbracht?«
»Ich hatte noch was zu arbeiten …«
»Sie meinen im Job?«
»Ja.«
»Sie sind am Samstagabend noch mal im Büro gewesen?« Johanna war
erstaunt.
»Ja. Es waren noch Seminarunterlagen zusammenzustellen und Kleinkram
zu erledigen, dazu sind wir Freitag nicht mehr gekommen. Gregor, ein Kollege
und Freund, hat mir geholfen. Danach sind wir nach Braunschweig gefahren.«
»Wann war das?«
»Gegen neun ungefähr.«
»Wie sind Sie hingekommen?«
»Was?« Henrik runzelte die Stirn.
»Sind Sie mit Ihrem Wagen gefahren?«
»Nein, mein Auto ist in der Werkstatt. Wir haben Gregors genommen,
der wohnt auch im Reitlingstal. Wir waren zusammen im Kino und danach noch was
trinken.«
»Wann waren Sie zu Hause?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich schätze, es war schon drei Uhr früh.«
Johanna ließ ihn nicht aus den Augen. »Sie waren den ganzen Tag über
weder bei sich zu Hause noch über Handy erreichbar.«
Er nickte rasch. »Ich hatte mein Handy ausgestellt. Ich habe bei Gregor
geschlafen, der wohnt im Gästehaus unterm Dach.« Er rieb sich das Kinn. »Wir
haben noch zusammengesessen und Playstation gespielt. Das machen wir häufiger
mal. Irgendwann bin ich auf dem Sofa eingepennt. Da war’s wahrscheinlich schon
sechs Uhr.«
Johanna lehnte sich zurück. »Und wo auf dem Gelände befindet sich
Ihre Wohnung?«
»Im Verwaltungsgebäude.«
»Ist es ein langer Fußmarsch vom Gästehaus zum Verwaltungsgebäude?«
»Wenn man todmüde ist, schon.«
»Und wenn man nicht todmüde ist?«
»Je nachdem, wie eilig man es hat. Vielleicht fünf Minuten.«
Johanna machte eine Kunstpause. »Ich brauche die Telefonnummer von
Ihrem Kollegen Gregor, und ich muss wissen, wo Sie wann in Braunschweig
unterwegs waren.«
»Ja, aber …? Heißt das, Sie …?«
»Das heißt, dass ich Ihre Angaben prüfen muss. Reine Routine. Ich
muss alle Angaben prüfen. Ihr Bruder ist unter noch nicht geklärten Umständen
zu Tode gekommen – übrigens ganz in der Nähe Ihres Wohn-und Arbeitsortes.
Sie waren wahrscheinlich der Vorletzte, der ihn lebend gesehen hat.«
»Ich verstehe«, sagte er langsam.
»Wie war das Verhältnis zu Ihrem Bruder?«
»Wir haben uns nicht besonders gut verstanden, aber …«
»Warum nicht?«
Er zuckte mit den Achseln. »Noch nie. Milan war immer Musterknabe
und Überflieger. Von klein auf. Der Liebling aller. Ich eher nicht.« Henrik
verzog den Mund.
»Haben Sie irgendeine Erklärung, wie Milan zu dieser Zeit mitten in
den Elm gekommen sein könnte?«
Henrik hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist mir
völlig unverständlich. Er hat mich abgesetzt und ist sofort weitergefahren.«
»Auto und Handy sind verschwunden. Ihr Bruder wurde am Hals
verletzt. Wahrscheinlich ist er verblutet. Einzelheiten erfahren wir
hoffentlich bald aus der Gerichtsmedizin, aber bereits jetzt spricht hier
vieles, eigentlich fast alles für ein Verbrechen.«
Henrik schluckte. Seine Oberlippe begann zu zittern. »Hören Sie …
ich bin kein Weichei, aber mein Bruder ist …« Er wandte sich ab. »Bitte
gehen Sie jetzt.«
Johanna nickte. »Natürlich.« Sie schlug ihr Notizheft auf. »Ich brauche
nur noch ein paar Daten von Ihnen, dann sind Sie mich los.«
Fürs Erste, fügte sie im Stillen hinzu.
Kurz darauf verließ Johanna das Haus der Hildmanns. Draußen blieb
sie einen Augenblick stehen, um sich zu sammeln. Ein Wagen hielt an der Straße,
und eine Frau stieg aus. Sie schien Johanna gar nicht wahrzunehmen. Erst als
die Kommissarin das Gartentor öffnete und beide Frauen aufeinander zugingen,
musterte sie Johanna. Ein
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