Wolfstage (German Edition)
das kleine Domizil umzubauen, ließ sie ihm völlig freie Hand.
Erika schwieg erschöpft. Sie hoffte inständig, dass es ihr
gelungen war, die Ereignisse inhaltlich korrekt und sachlich zu schildern. Volker
hatte sich während der ganzen Zeit kaum gerührt, und er blieb weiterhin
maskenhaft starr. Erika trank einen Schluck von dem Tonic, das inzwischen warm
und modrig schmeckte.
Plötzlich hob ihr Mann den Blick. »Warum? Warum erzählst du mir den
ganzen Mist ausgerechnet jetzt?«
»Tibor Kranz ist seit ein paar Tagen wieder in Königslutter, seine
Mutter ist kürzlich gestorben. Er ist mir im Reitverein über den Weg gelaufen«,
erklärte sie hastig. »Und er verhält sich ausgesprochen merkwürdig.«
Er starrte sie an. »Wie meinst du das?«
»Er befragt Gott und die Welt, wo Steffen abgeblieben ist und …«
Volker presste die Zähne aufeinander und unterbrach sie mit einer
heftigen Handbewegung. »Um ehrlich zu sein – ich finde es sehr viel
merkwürdiger, dass meine Frau und mein Sohn zur gleichen Zeit ein Verhältnis
mit ein-und demselben Typen gehabt haben.«
Erika zuckte zusammen. »Er ist ziemlich aufdringlich und war sogar
so dreist, mich auf Steffen anzusprechen. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass
er mich nervös machen wollte. Vielleicht präsentiert er die Fotos demnächst ein
zweites Mal – im Alleingang. Oder Steffen ist wieder mit von der Partie,
bleibt aber im Hintergrund, und die beiden treiben ein abgekartetes Spiel mit
mir. Ich befürchte –«
»Ich befürchte, dass du hysterisch reagierst und das Ganze überbewertest«,
unterbrach er sie kühl.
»Da gibt es nichts überzubewerten«, entgegnete Erika. »Tibor ist
Fotograf – er hat die Bilder gemacht, und die beiden haben mich erpresst!«
»Das vermutest du.«
»Es ist weit mehr als eine Vermutung.«
Volker warf ihr einen scharfen Blick zu und lächelte plötzlich
süffisant. »Ich bleibe dabei: Es gehört nicht unbedingt zu deinen Stärken, die
Dinge ins rechte Licht zu rücken und objektiv zu werten. Vielleicht hat dein
galanter Reitlehrer die Sache damals ja doch allein durchgezogen, weil sich
diese Möglichkeit aufgrund deiner teeniehaften Verliebtheit förmlich
aufdrängte, und Tibor war völlig unbeteiligt. Steffen hat ihn nur erwähnt, um
dich abzulenken. Wenn ich dich richtig verstanden habe, war Kranz doch schon
abgereist, als die Erpressung lief. Außerdem liegt die Geschichte zehn Jahre
zurück.«
»Na und? Das muss gar nichts heißen. Ich bin sicher immer noch gut
zu erkennen auf den Fotos …«
Volker hob eine Augenbraue, enthielt sich aber des Kommentars.
»Kranz hat mich derart auffallend gemustert, so provozierend, so …
Ich weiß nicht.« Erika atmete tief durch. »Mir ist jedenfalls ganz anders
geworden.«
»Dir wird häufiger mal ganz anders.«
Erika ließ die Bemerkung stehen. Volker leerte sein Glas.
»Und ausgerechnet dieser Tibor Kranz entdeckt zusammen mit einer
Journalistin im Elm den toten Milan, den Sohn meiner besten Freundin –
unserer Freunde«, sagte sie schließlich und schüttelte den Kopf. »Ich kann es
kaum fassen. Milan war zweiundzwanzig, fünf Jahre jünger als Moritz, ein
wunderbarer junger Mann …«
Volker stand abrupt auf und stellte sich in die offene Terrassentür.
Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und sah eine Weile schweigend hinaus.
»Wusstest du eigentlich damals, dass unser Sohn schwul ist –
ich meine: vor den Fotos?«, fragte er plötzlich.
Erika sah auf. »Nein. Doch wenn es nicht gerade Steffen gewesen wäre …
meine Überraschung hätte sich wahrscheinlich in Grenzen gehalten. Später habe
ich oft bedauert, dass er nie mit mir über seine Homosexualität gesprochen hat.
Schließlich …«
Volker drehte sich um. »Wieso mit dir?«
»Weil schwule Söhne häufig mit ihren Vätern die größeren Probleme
haben. Und umgekehrt. Das hat sich ja dann bei euch beiden auch bestätigt.«
Den Nachsatz konnte Erika sich nicht verkneifen. Selbst ein intelligenter,
ansonsten aufgeschlossener und gebildeter Mann wie Volker hatte mit kaum
verhohlener Abwehr auf die Homosexualität seines Sohnes reagiert.
»Ach ja? Und warum ist er dann deiner Ansicht nach nicht zu dir
gekommen, Frau Pädagogin und Schwulen-Versteherin?«
»Ganz einfach: Moritz hat weder dich noch mich sonderlich in sein
Leben einbezogen – egal, worum es ging. Da stand ihm wohl erst recht nicht
der Sinn danach, uns über seine ersten Liebeserfahrungen, noch dazu
homosexuelle, zu
Weitere Kostenlose Bücher