Wolfstage (German Edition)
das Gespräch.
Es klopfte, und Schuster steckte den Kopf zur Tür herein. »Man
erwartet Sie in der Gerichtsmedizin.«
Ihre Hoffnung, im gerichtsmedizinischen Institut in
Hannover wieder auf Thomas Kasimir zu treffen, der sie bei ihrem ersten Fall in
Wolfsburg unterstützt hatte, erfüllte sich nicht. Der zuständige Mediziner war
aber dennoch kein Unbekannter, wie Johanna erfreut feststellte, als sie mit Colin
Sander im Schlepptau eine gute Stunde später dort eintraf.
Dr. Hartmut Pockly hatte viele Jahre in Berlin gearbeitet und
war Johanna bei zahlreichen Fällen hilfreich zur Hand gegangen, bevor er sich
im letzten Jahr entschieden hatte, die Leitung des niedersächsischen Instituts
zu übernehmen. Pockly war ungefähr sechzig, ging aber mit seinem schlohweißen
Haarschopf und dem hageren und zerfurchten Gesicht, das von einer ramponierten
Nickelbrille beherrscht wurde, auch gut und gerne für siebzig durch. Er gab oft
den schrulligen Professor, war jedoch erfinderisch und überaus scharfsinnig,
wenn es darum ging, einem Verbrechen auf die Spur zu kommen.
Pockly hatte bereits gewusst, dass Johanna die ermittelnde Beamtin
war, und für die Begrüßung immerhin zwei zusätzliche Minuten erübrigt –
inklusive eines schrägen, aber wortlosen Seitenblicks auf Colin –, bevor
er zur Tagesordnung übergegangen war und sie in den Untersuchungsraum geführt
hatte.
»Eine Schande ist das! So ein junger Bursche«, sagte der Mediziner,
während er mit einem Hefter in der Hand an den Tisch trat, auf dem Milan lag.
Neben Johanna stand plötzlich ein stocksteifer Colin.
»Du sagst es«, erwiderte sie leise.
Sie war bestürzt, wie unverbraucht das Gesicht wirkte. Eine Locke
war ihm in die Stirn gerutscht. Die Verletzung wirkte seltsam irreal,
deplatziert: ein tiefes, sorgfältig gereinigtes und an den Rändern
ausgefranstes Loch auf der rechten Halsseite in Höhe des Kehlkopfes.
»Was ist diesem jungen Mann widerfahren?«, fragte sie.
Pockly zog die Nase kraus, was seine Brille beinahe zum Absturz
brachte. »Ich nehme an, dass er einen Pfeil abbekommen hat, der später wieder
entfernt wurde.«
Johanna stockte der Atem. »Was?«
»Es gibt noch keine hundertprozentige Sicherheit, weil die Waffe
nicht vorliegt, aber Staatsanwältin Kuhl hat uns einen Bolzen mitgeschickt, der
vorab schon in Braunschweig untersucht worden ist. Ein ähnlicher Pfeil kommt
mit großer Wahrscheinlichkeit in Frage.« Er schlug den Hefter auf. »Gegen
Mitternacht ist er gestorben. Die Schätzung hat sich also bestätigt.«
Colin zupfte sein Piratentuch zurecht.
Johanna schwieg eine Weile. Dann sah sie Pockly an. »Gibt die
Kleidung irgendwas her?«
Er warf einen erneuten Blick in seine Unterlagen. »Nichts, was mich
auf den ersten Blick stutzen lässt. Wir machen natürlich noch die üblichen
Analysen von Haaren, Dreck und dergleichen. Falls du noch entsprechende
Indizien findest, ist unverzüglich ein DNA -Abgleich
möglich.«
»Gut. Wenigstens etwas.«
»Noch was«, fuhr Dr. Pockly fort. »Der Junge war völlig erschöpft
und dehydriert. Ich halte es für möglich, dass er ziemlich lange durch den Wald
gelaufen, vielleicht geflohen ist.«
»Oder gehetzt wurde?«
Pockly nickte langsam. »Möglich.«
»Bevor er getroffen wurde oder danach?«
Pockly schob die Brille hoch. »Beide Varianten sind denkbar.«
Colin atmete tief aus, während er ein Notizheft aus seiner
Gesäßtasche hervorzog. Johanna schwieg betroffen.
»Mit den Wolfskadavern hat sich ein Kollege von der Tierklinik
befasst. Ich weiß, wie ungeduldig du bist, deshalb vorab schon mal so viel:
Beide Tiere sind keines natürlichen Todes gestorben«, erklärte der
Gerichtsmediziner.
»Lass mich raten – sie sind mit Pfeilen beziehungsweise mit Bolzen
abgeschossen worden.«
»Richtig. In einem der Tiere ist eine abgebrochene Pfeilspitze gefunden
worden. Reizende Gegend, in der du gerade zu tun hast.«
Konnte Milan die Wege der Wolfsjäger versehentlich gekreuzt haben?
Vielleicht handelte es sich um einen tragischen Unglücksfall, bei dem
anschließend die Spuren verwischt worden waren. Aber warum hatte man ihn dann
einfach liegen gelassen, während Auto und Handy beiseite geschafft sowie der
Pfeil entfernt worden waren?, grübelte Johanna. Oder war das der völlig falsche
Denkansatz? Sie rieb sich die Stirn.
»Die Leiche ist von irgendwelchen hirnverbrannten Idioten bewegt
worden, nicht wahr?«, fragte Pockly, nachdem er sie stumm gemustert hatte.
»Das kann man so
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