Wolfstage (German Edition)
jetzt,
dachte Tibor. Andererseits – je schneller die Formalitäten mit dem Haus
erledigt waren, desto besser. Er meldete sich knapp.
Ein ehemaliger Schulfreund interessiere sich für die Immobilie, erklärte
Lummer ohne Umschweife. Er warte in der nächsten Stunde vor dem Haus auf ihn –
seinen Namen habe er nicht verraten wollen, um ihn zu überraschen. Toll, dachte
Tibor, aber mein Bedarf an überraschenden Ereignissen ist gedeckt. Er erklärte
Lummer, dass er keine Zeit hätte, entschloss sich dann aber doch, auf den
Ausritt zu verzichten und stattdessen einen Spaziergang zu seinem Elternhaus zu
machen.
Vor dem Haus war niemand zu sehen. Tibor wartete eine Weile, dann
drehte er eine kleine Runde auf dem Grundstück und ging schließlich hinein, um
nach dem Rechten zu sehen. Er inspizierte Küche und Keller und goss sich ein
Glas Wasser ein, als es leise klopfte. Die Klingel ist wohl ausgestellt, dachte
er und ging zur Haustür. Er war gespannt, welcher alte Schulfreund ihn zu
überraschen gedachte.
Als er im schattigen Eingang dem Besucher gegenüberstand, beschlich
ihn plötzlich ein seltsames Gefühl. Der Mann war für einen Schulfreund
eindeutig zu alt, kam ihm aber trotzdem irgendwie bekannt vor. Eine tief ins
Gesicht gezogene Baseballkappe erschwerte den Blick aufs Gesicht.
Tibor runzelte die Stirn, als der Mann lächelnd einen Schritt auf
ihn zuging, und wollte gerade irgendeine Bemerkung machen, um einen Moment Zeit
zu gewinnen, als der andere zuschlug. Der Fausthieb traf ihn nicht nur
unvorbereitet, sondern auch genau auf den Punkt am Kinn, der ihn sofort außer
Gefecht setzte.
Bevor er bewusstlos zu Boden ging, war sein letzter Gedanke, dass er
vor Urzeiten einmal gelernt hatte, die Tür erst dann zu öffnen, wenn er genau
wusste, wer warum davor stand.
***
Johanna hatte sich für den Gasthof »Zum Elmblick«
entschieden. Er lag direkt an der B1, und das Huhn war tatsächlich so
hervorragend, wie einer der Kollegen es angepriesen hatte. Vielleicht gelang es
ihr, wenigstens beim Essen abzuschalten. Sie war erschöpft und aufgekratzt
zugleich, aber das wunderte sie nicht. Wenn ein Fall in die entscheidende Phase
ging, kam sie nicht zur Ruhe. Als ihr Hunger gestillt war, fuhr sie in die
Dienststelle zurück.
Schuster und Sander hatten beschlossen, die Observation gemeinsam in
Angriff zu nehmen. Johanna war es recht. Vier Augen sahen mehr als zwei. Als
sie im Gerichtsweg aus dem Auto stieg, fuhr ein großer dunkelroter Audi auf den
Parkplatz und hielt neben ihr. Ein Mann öffnete die Fahrertür. Alexander
Hildmann. Er war fast so bleich wie vor gut einer Stunde sein Sohn und blickte
Johanna einen Augenblick stumm an.
»Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte er schließlich leise und schälte
sich mühsam hinter dem Steuer hervor.
Hildmann war ein langer schlaksiger Mann, Typ: ewiger großer Junge à
la Jörg Pilawa. Johanna konnte wenig mit solchen Männern anfangen, aber das
spielte jetzt keine Rolle.
»Herr Hildmann, ich habe Sie benachrichtigen lassen, weil ich wusste,
dass Sie auf Henrik warteten.«
Er winkte ab und trat zu ihr. »Ich weiß. Ich habe es zu Hause nicht
länger ausgehalten. Was ist passiert?«
»Ich musste Ihren Sohn vorläufig festnehmen.«
Alexander Hildmann fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.
»Es blieb mir gar nichts anderes übrig.«
Er atmete schwer. »Vor ein paar Tagen war alles noch in bester
Ordnung«, flüsterte er. »Und nun ist meine Familie im Begriff, sich aufzulösen.
Mein jüngster Sohn und meine Frau waren das Herz und die Seele. Verstehen Sie?
Nun ist Milan tot – das wird meine Frau niemals überwinden. Sie wird nie
wieder zu sich selbst zurückfinden. Das erträgt sie einfach nicht. Ihr
Liebling, ihr ein und alles … Ich verliere den Boden unter den Füßen.«
Er schluckte und sah kurz zur Seite. »Und nun ist Henrik
festgenommen worden.« Er ließ die Arme hängen. »Wie sollen wir das verarbeiten?
Bitte reden Sie mit mir.«
»Sie brauchen ganz dringend professionelle Hilfe«, sagte Johanna
leise und legte die Hand auf die Klinke der Eingangstür. Hildmanns Schmerz und
Verzweiflung berührten sie mehr, als gut für sie war. »Soll ich mich um einen
Polizeipsychologen kümmern?«
»Nein. Nehmen Sie sich einfach ein paar Minuten Zeit – bitte!«
Sie hielt inne. Dann gab sie sich einen Ruck. »Gut, kommen Sie mit,
wir trinken einen Kaffee.«
Der diensthabende Kollege warf ihr kaum mehr als einen fragenden
Blick zu, als Johanna mit Hildmann
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