Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt
von Giorgio. Sie sind mir gerade eingefallen. Wenn er einen Grabstein bekäme, wäre das die Inschrift. Aber er wollte nie einen Grabstein.»
Wieder verfielen sie in Schweigen. Als Guerrini in den Feldweg nach Wasteland einbog, beugte Piovene sich vor, wirkte plötzlich seltsam erregt.
«Bitte sagen Sie nichts, ehe wir angekommen sind», murmelte er. «Ich möchte all das auf mich wirken lassen.»
Und als würde der tote Altlander seinem ehemaligen Geliebten einen dramatischen Empfang bereiten, beleuchtete die tiefstehende Sonne nur den Bergrücken, auf dem Wasteland stand – ein einsames Haus in einsamer Landschaft. Als sie nur noch ein paar hundert Meter vom Haus entfernt waren, wollte Piovene aussteigen und den Rest des Wegs zu Fuß gehen. Laura und Guerrini fuhren langsam weiter, hielten im Hof und warteten. Laura ertappte sich dabei, dass sie mit den Augen die Hügel und Täler nach einem schwarzen Geländewagen absuchte. Doch da waren nur die silberblauen Kronen der Olivenbäume und grasbewachsene Hänge mit Erosionsnarben. Weiter weg liefen Schafe herum wie eine zerrissene Perlenkette, sammelten sich auf einem Hohlweg und verschwanden in einem Tal. Laura schloss kurz die Augen, spürte leichte Kopfschmerzen.
Während Guerrini das Haus aufschloss, ging sie Raffaele Piovene ein paar Schritte entgegen, wollte herausfinden, an wen er sie erinnerte. Als er zwischen den Ölbäumen auftauchte, fiel ihr – und seltsam, dass sie es erst jetzt bemerkte – seine ungewöhnliche Kleidung auf. Er trug ein weißes Leinenhemd mit weit offenem Kragen, darüber eine braune Leinenjacke. Seine Füße steckten in weichen braunen Stiefeln und seine Beine in braunen Leinenhosen. Zögernd kam er auf sie zu, die Sonne ließ sein dunkelblondes Haar aufleuchten, und in diesem Augenblick wusste Laura, an wen er sie erinnerte: an eine historische Abbildung des jungen englischen Dichters Percy Bysshe Shelley, den sie als Schülerin eine Weile stürmisch verehrt hatte.
Ohne Zweifel kleidete Piovene sich in Anlehnung an Shelley. Laura verwirrte sein Anblick, und irgendwie fühlte sie sich hilflos. Ihr kam es vor, als sei seit diesem Nachmittag die Wirklichkeit aus den Fugen geraten. Auf der einen Seite war es wunderbar, einer Wiedergeburt Shelleys zu begegnen, auf der anderen ziemlicher Blödsinn. Sie war hier, um einen Mord aufzuklären! Deshalb nahm sie sich zusammen und empfing ihn mit Zeilen aus Shelleys Ode an den Westwind , die ihr besonders passend erschienen:
«Wär ich die Wolke und im Fluge dein,
Wär ich die Woge, unter dir vergehend,
Und tränke deine Kraft, von dir allein
Beherrscht …»
Er blieb stehen, runzelte die Stirn.
«Warum tun Sie das?»
«Ich bin Polizistin.»
«Zitieren Polizisten Shelley?»
«Manchmal.»
«Sie haben es erkannt, nicht wahr?»
Laura nickte. Piovene senkte den Kopf, stieß mit der Stiefelspitze gegen einen Stein, dann lächelte er leicht, schaute in Lauras Augen, ließ sie nicht mehr los.
«Ich laufe nicht immer herum wie der alte Shelley. Ich habe es für Giorgio getan und für das, was wir gemeinsam erlebt haben. Ich weiß nicht, ob sie es verstehen können, ob irgendwer es verstehen kann – außer mir und Giorgio.»
Laura fragte nicht, wartete.
«Sie werden sich fragen, wovon ich spreche … vielleicht werden sie darüber lachen, aber ich kann Ihnen sagen, dass es die schönste Zeit meines Lebens war. Sehen Sie … wir waren ganz woanders, haben zwei, drei verschiedene Leben gleichzeitig gelebt, Giorgio und ich. Wir waren Lord Byron und Shelley, und wir waren mindestens so kreativ wie die beiden. Für Giorgio war Byron eine Leitfigur, die er absolut bewunderte. Als er mich kennenlernte, hielt er es für eine Fügung des Schicksals, weil ich Shelley so ähnlich sah und weil ich schrieb.»
«Aber weder Byron noch Shelley war homosexuell, wenn ich mich nicht täusche.» Laura wich Piovenes Blick nicht aus, hatte nicht einmal das Bedürfnis danach.
«Das spielt keine Rolle», erwiderte er ernst. «Sie waren Liebende, und ein Geheimnis umgibt sie. Sie liebten Frauen und Männer, waren universelle Liebende. Das ist mehr, das ist eigentlich alles!»
Jetzt erst bemerkten beide Guerrini, der ihnen entgegengekommen war und vermutlich schon eine Weile zuhörte.
«Lassen Sie uns zum Haus gehen.» Piovene schien irritiert. «Erzählen Sie mir, was mit Giorgio geschehen ist.»
Schweigend streifte er durchs Haus, durch alle Räume, blieb hier und dort stehen, flüchtig einen Gegenstand
Weitere Kostenlose Bücher