Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt
berührend. Er war blass geworden, ein schmerzvoller Zug lag um seinen Mund. Guerrini und Laura begleiteten ihn, hielten aber Distanz, um ihn nicht zu stören. Nur einmal, als er neben Altlanders Schreibtisch stand, wollte Piovene wissen, wie sein Gefährte gestorben war. Guerrini beschrieb es in knappen Sätzen. Piovene nickte, verließ endlich mit schnellen Schritten Altlanders Arbeitszimmer.
«Lassen Sie uns etwas trinken und uns auf die Terrasse setzen. Um diese Tageszeit war der Blick schon immer unbeschreiblich.»
Plötzlich wirkte er wie ein Gastgeber, obwohl er angeblich seit zehn Jahren nicht mehr in diesem Haus wohnte. Laura und Guerrini folgten ihm die Treppe hinunter, schauten mit ihm auf das Bild von Francis Bacon, und Laura versuchte all die verschiedenen Eindrücke zu fassen, die sie von Giorgio Altlander inzwischen hatte, fand es an der Zeit, Piovene wieder Fragen zu stellen.
«Wie lange haben Sie hier gelebt, Signor Piovene?»
Er schien nachzudenken, ganz allmählich erst aus einer anderen Welt zurückzukehren.
«An die sechs Jahre», antwortete er leise.
«Warum sind Sie ausgezogen?» Guerrini fuhr mit einer Hand über das glatte Treppengeländer. Piovene schien seine Frage nicht gehört zu haben. Er ging vor ihnen her in die Küche, schaute sich kurz um, nahm eine Flasche aus dem Weinregal, prüfte das Etikett. Dann aber hob er den Kopf und sah Guerrini an.
«Warum haben Sie sich von Ihrer letzten Partnerin getrennt, Commissario?»
«Meine letzte Partnerin wurde nicht ermordet, Signor Piovene. Es spielt also keine Rolle.»
Piovene öffnete eine Schublade und nahm den Korkenzieher heraus. «Ein Punkt für Sie. Hier hat sich kaum etwas verändert, seit ich gegangen bin. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, Commissario: Unsere Beziehung war vermutlich zu intensiv. Ich habe es einfach nicht länger ausgehalten. Giorgio wollte mich damals nicht gehen lassen, aber ich wusste, dass ich mich selbst wiederfinden musste. Sehen Sie … wenn Sie ständig die Rolle eines andern spielen, dann entfremden Sie sich von sich selbst. Ich bin nicht Shelley, obwohl Shelley mir viel gegeben hat. Wissen Sie, was ich gemacht habe, als ich Giorgio verließ? Ich bin an den Strand von Viareggio gefahren und habe Shelley noch einmal symbolisch ersäuft und verbrannt, um endlich wieder frei zu werden!»
«Ich kenne Shelleys Geschichte nicht so genau», erwiderte Guerrini. «Würden Sie mich bitte aufklären?»
Piovene entkorkte die Flasche, schnupperte am Flaschenhals, nickte und nahm drei Gläser aus dem Regal neben dem großen Kühlschrank. Erst nachdem er einen Schluck Wein gekostet hatte, wandte er sich mit einem Lächeln zu Guerrini. «Shelley ertrank am 8. Juli 1822 im Meer vor Viareggio. Er wollte mit einem Freund von Livorno nach La Spezia segeln, doch sie gerieten in einen heftigen Sturm. Beide kamen ums Leben. Die Sache war aber komplizierter, als sie sich anhört, denn Shelley hatte eine Affäre mit der Ehefrau des Freundes. Das Boot wurde unversehrt geborgen – es war nicht gekentert. Ein ungeklärter Fall, Commissario … vielleicht sollten Sie ihn noch einmal aufrollen.»
«Danke für diesen Hinweis, aber mir reichen die aktuellen Verstrickungen. Trotzdem würde mich interessieren, was Lord Byron machte, als er vom Tod seines Freundes erfuhr.» Guerrini ließ den Dichter nicht aus den Augen.
«Shelleys Leiche wurde an den Strand von Viareggio gespült. Man verständigte Byron, und er eilte sofort herbei – damals lebte er in Pisa … glaube ich. Er ließ einen Scheiterhaufen errichten und verbrannte Shelleys Körper, wo man ihn gefunden hatte. Interessanterweise blieb Shelleys Herz unversehrt. Byron nahm es mit nach Rom und hat es dort begraben.» Er stippte nachdenklich einen Finger in einen winzigen Weintropfen, den er beim Einschenken verschüttet hatte. «Hin und wieder besuche ich Shelleys Grab auf dem Friedhof am Testaccio. Eine sentimentale Regung – vielleicht. Doch es schaudert mich jedes Mal, wenn ich mir vorstelle, dass dort nur ein Herz in die Erde gelegt wurde.» Wieder trank Piovene einen Schluck und fügte sehr ernst hinzu: «Der Wein ist gut, wie ich es in Giorgios Haus nicht anders erwartet habe. Lassen Sie uns also auf die Terrasse gehen und in Ruhe über alles sprechen.»
Laura und Guerrini nickten, folgten Piovene durch die Tür auf eine breite Veranda hinaus, die halb unter einem Bogengang im Westen des Hauses lag. Eine Treppe führte gleich vor der Küchentür zum
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