Wolfstraeume Roman
letztes Mal zum East River um. Über der Meerenge hing ein gespenstisch wirkender Halbmond, der wie ein böses Omen auf mich wirkte – fast wie in einem Stück von Shakespeare, wo die Präsenz wilder Geister oder der bevorstehende Wahnsinn eines Königs auf eine solche Weise angekündigt wurde.
Oder wie in einem zweitklassigen Gruselfilm, um zu symbolisieren, dass sich Unheimliches zusammenbraut.
Teil zwei
14
An dem Tag, an dem wir auszogen, überfiel mich bereits die erste Schnsucht nach meinem bisherigen Leben in New York. Wir hatten noch zwei Wochen Miete zu zahlen, so dass wir uns mit dem Umzug Zeit lassen konnten. Bereits seit meinem Entschluss, Hunter aufs Land zu folgen, überkam mich immer wieder ein Gefühl der Nostalgie, wenn ich an all das dachte, was ich zurückließ. Am D-Day wachte ich ruckartig auf und musste weinen, als ich einen Presslufthammer auf dem Bürgersteig vor unserem Haus hörte.
Wenn man einmal in Manhattan gelebt hat, kommen einem alle anderen Orte geradezu unwirklich vor. Es ist meiner Meinung nach die solide Präsenz all der hohen Steingebäude und nicht die der aristokratisch wirkenden Wolkenkratzer, die einen an diesen Ort binden. Nach Manhattan sehen alle ein- und zweistöckigen Vorstadthäuser mickrig und zerbrechlich wie Kartenhäuser aus, fast so, als würde bereits das Knurren eines Wolfes ausreichen, um sie zum Einstürzen zu bringen.
Außerdem zeichnet Manhattan ein solcher Bekanntheitsgrad aus, dass es einem selbst als belgischer Fabrikarbeiter oder Schäfer aus Lancashire vertraut erscheint. Man kann die schmale Insel überall finden – in Zeitungen, Werbungen,
im Fernsehen oder Kino. Manhattan stellt immer die Stadt per se dar: laut, glamourös und schmutzig, ein Dorf voller Avantgarde-Kleinkinder, geistig verwirrter Künstler, Geschäftsleute aus Europa, unbedeutender Schauspieler, hoffnungsvoller Immigranten aus Haiti und Ohio, Drogendealer, Katzenfanatiker, schamlos Erfolgreicher und tief Verletzter. Überall ergeben sich in diesem unzivilisierten Zentrum der zivilisierten Welt unerwartete Schnittmengen.
Ich wollte nicht zu den Reihen der Deserteure gehören, die behaupten, die Energie und Kultur der Stadt zwar zu lieben, sich aber von den Überfällen, komischen Kauzen, Stromausfällen oder terroristischen Bedrohungen verscheuchen lassen. Als gäbe es in einer Kleinstadt keine Gefahr – als könnte in einer Sommernacht erfüllt von dem Zirpen der Grillen oder auf dem Weg zur Dorfkirche kein Kind plötzlich verschwinden. In New York war man zumindest nie überrascht, wenn man wieder etwas über die Schlechtigkeit der Menschen erfuhr. Das wusste man sowieso.
Was ist Ihre liebste Großstadtlegende? Die über die gestohlenen Nieren? Oder die über krossgebratene Ratten? Oder vielleicht die über nuklearverseuchte U-Bahn-Schächre? Meist stellt man sich vor, dass solche Schauergeschichten in Manhattan passieren, wo der Rauch aus Kanaldeckeln steigt, unhöfliche Fußgänger einander über breite Straßen hinweg anbrüllen, überall schmutzige Tauben herumhocken und gelbe Taxis gefährliche Manöver fahren.
In den letzten Tagen vor unserem Umzug besuchte ich verschiedene Museen, das Empire State Building und Bloomingdale’s. Als ich mir im Planetarium eine Ganzkuppel-Videoshow
ansah, mein Sitz wie in einem Raumschiff zu vibrieren begann und sich die Milchstraße immer mehr im weiten All verlor, kamen mir auf einmal die Tränen. Das ist mein Zuhause, dachte ich. Mein Universum.
Über solche Dinge denkt man normalerweise nicht nach, es sei denn, man zieht um. Da ich schon nicht mehr am Institut arbeitete und mir so viel – schmerzhaft viel – Zeit blieb, wurde mir auf einmal alles Mögliche bewusst. Mir wurde klar, dass ich auf dem Land schon ein Auto brauchte, wenn mir die Zahnpasta ausgegangen war, und dass es nie mehr so einfach sein würde, problemlos überall hinzukommen wie hier in New York. Ich begann mich bereits jetzt nach Manhattan zu sehnen, obwohl ich noch gar nicht fort war. Manhattan kam mir beinahe wie ein Liebhaber vor, den ich notgedrungen aufgeben musste, um meine Ehe zu retten.
Wie um mich zu quälen, zeigte sich Manhattan noch einmal von seiner besten Seite: Das Laub der Ahornbäume in unserer Straße wurde langsam gelb, und ein kühler Wind kam auf, der in mir den Wunsch weckte, nach neuen Klamotten Ausschau zu halten. Überall konnte man die neue Mode in wunderschönen Violett-, Orange- und Purpurtönen bewundern. Die Farben erinnerten an
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