Wolfstraeume Roman
schweren Burgunder, den man nach einem Sommer voll von leichtem Weißwein besonders genießt. Am Broadway wurden in den Schaufenstern der Schreibwarenläden und der Drogeriemärkte bereits grinsende Totenköpfe ausgestellt, und als ich im Supermarkt um die Ecke einkaufen ging, konnte ich Kinder beobachten, die eins nach dem anderen den Knopf an einer zähnefletschenden Zombiemaschine drückten und sich halbtot lachten, als sie sich bewegte.
Während eine kleine Armee von Israelis unsere Möbel und sonstigen Habseligkeiten in einen großen Umzugswagen der Firma Samson Movers verstaute, aß ich zum letzten Mal im Cafe Barney Greengrass. Ich saß allein an einem kleinen Tisch. Neben mir diskutierten zwei alte Männer über Politik, während sie sich über ihre Teller mit Stör und Räucherlachs beugten. Vor einiger Zeit hatte ich meiner Ärztin versprechen müssen, als Vegetarierin zumindest immer mal wieder Fisch zu essen, um nicht anämisch zu werden, und so hockte ich vor einem Salat mit Renken. Die vielen Proteine ließen mich beinahe schwindlig werden.
»Du darfst keine Vegetarierin werden«, hatte mein Vater, der aus Barcelona stammte, mir in jenem Sommer eingeschärft, als ich von einem Tag auf den anderen aufhörte, Fleisch zu essen. »Vegetarier sind öde.«
»Ich will aber keine Leichen mehr zu mir nehmen. Verstehst du das nicht?«
»Das ist alles die Schuld deiner Mutter. In Europa wuchsen zu meiner Zeit die meisten Kinder noch in dem Bewusstsein auf, dass Hühner Federn haben. Man rupft sie, man kocht das Huhn, man isst es. Hier in Amerika ist alles so furchtbar antiseptisch und überhygienisch, dass selbst das Fleisch meistens wie ein Stück Kaugummi aussieht. Wenn ihr Kinder dann irgendwann kapiert, dass ihr es mit etwas Totem zu tun habt, ist der Schock natürlich groß.««
»Ich will diese Garnelen aber nicht mehr essen, Dad. Tut mir leid.«
»Das sind Flusskrebse.«
»Was auch immer es ist. Ich finde, es ist falsch, etwas zu essen, das früher einmal gelebt habt – es sei denn, du bist bereit, das Tier selbst zu töten. So wie die Indianer das tun.««
Ich konnte mich noch gut an das Lächeln meines Vaters erinnern. »Dann bring das Tier eben selbst um. Du brauchst sowieso eine gewisse Brutalität, um in dieser Welt zu überleben, mein Kind.«
Vierzehn Jahre später und schon lange nicht mehr so sicher, ob meine Gründe, kein Fleisch zu essen, wirklich plausibel waren, steckte ich eine letzte Gabel augen- und zahnlosen Fischsalat in den Mund. Dann schob ich ein Stück Bagel hinterher. Schließlich warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war nun endgültig an der Zeit, mein bisheriges Leben vollkommen auf den Kopf zu stellen.
Ich hatte mit Hunter – der alles, was mit Schuppen versehen war, hasste – vereinbart, ihn draußen vor dem Lokal zu treffen. Er kam mit zweiminütiger Verspätung daher und sah in der ausgewaschenen Jeans und dem weißen Seemannspulli fantastisch aus. Der gehetzt wirkende Ausdruck in seinem Gesicht war verschwunden, er hatte auch wieder angefangen, sich regelmäßig zu rasieren und zu duschen. In den letzten Tagen hatte er sich geradezu überschäumend vor Energie gezeigt. Die Aussicht, aufs Land zu ziehen und somit der Natur endlich näher zu sein, wirkte offensichtlich äußerst belebend auf ihn.
»Fertig?««
Ich faltete meine mit Fettflecken übersäte Ausgabe der New York Times zusammen und hakte mich bei ihm unter. »Fertig.«
Als wir gemeinsam zu unserem neuen Wagen gingen, verspürte ich zum ersten Mal seit meinem Entschluss, ihm zu folgen, eine gewisse Spannung und Aufregung. Dieser Umzug bedeutete einen echten Neubeginn. Ein Abenteuer. Paare, die gemeinsam Abenteuer meisterten, blieben doch
angeblich länger zusammen – irgendwo hatte ich das mal gelesen.
Ich hatte vor, in Northside einer Tierarztpraxis beizutreten und innerhalb weniger Jahre Partnerin zu werden. Schon bald würde ich alle Bewohner des Ortes namentlich kennen, und unsere Kinder würden im Winter einen verschneiten Pfad entlang in die Schule stapfen – einen Pfad, auf dem man Wildspuren sehen konnte.
Hunter drückte meine Hand mit seinem Oberarm. »Du bist sehr still, Abs.«
»Ich denke nur an etwas Schönes.« An der Ecke der 83. und der Amsterdam Street kam uns eine dünne, dunkelhaarige Frau entgegen, die einen aristokratisch magersüchtigen, russischen Windhund, einen Pudel, einen Husky und zwei Shih-Tzus ausführte. Sie begrüßte einen Mann mit einer Strickmütze, der
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