Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
wie sie einen verstohlenen Blick auf seine linke Hand warf – falls Ehering-Alarm für ihre Nanouk-Freundinnen angezeigt war. Doch allem Anschein nach war er nicht verheiratet.
»Kann man hier in der Gegend Belugas sehen?«, fragte er.
»Aber ja.«
»Die gleichen Belugawale, die manchmal in einem Aquarium wie dem von Mystic in Connecticut landen?«
»Ja. Obwohl wir der Meinung sind, dass sie in Freiheit, in ihrem natürlichen Lebensraum bleiben sollten.«
»Finde ich auch.«
»Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen gerne, eine andere Unterkunft zu finden. Einige Einheimische vermieten Zimmer – ein paar Meilen weiter die Straße entlang gibt es ein Motel, in dem noch Zimmer frei sein könnten. Mit Meerblick.«
»Mal sehen. Eigentlich bin ich nur wegen einer Information hier.« Er musterte sie, als versuchte er etwas herauszufinden – ob er sie schon einmal irgendwo gesehen hatte oder vielleicht erinnerte sie ihn an jemanden. »Sind Sie aus der Gegend? Von Cape Hawk, meine ich? Wohnen Sie schon lange hier?«
»Von Kindesbeinen an.«
»Dann kennen Sie hier bestimmt jeden.«
»Kann man wohl sagen«, erwiderte sie, auf der Hut. »Ich habe in die Familie Neill eingeheiratet, die den Gasthof und die Walbeobachtungsboote besitzt. Wir behalten die Dinge gerne im Auge.«
»Die Familie Neill?« Er griff in seine Tasche, klopfte sie wiederholt ab, suchte offenbar etwas. »Sind Sie mit Camille Neill verwandt?«
»Richtig.« Anne warf einen flüchtigen Blick zur Fliegengittertür hinüber, doch Camille hatte den Schaukelstuhl auf der Veranda verlassen – vermutlich, um ein Nickerchen zu machen.
»Verdammter Mist«, fluchte der Mann.
»Entschuldigung?«
»Ich würde gerne mit ihr sprechen. Wenn es geht. Ist sie … überhaupt noch am Leben?«
»Und wie«, gluckste Anne. »Aber vermutlich hat sie sich gerade hingelegt. Ich kann das gerne überprüfen, wenn Sie eine Minute warten.«
Anne glättete das ausgestellte Bringt-Rose-Heim-Kissen und wollte gerade zu dem Hörer greifen, als der Mann ein Bild aus der Tasche zog. Er räusperte sich und zeigte Anne seine Dienstmarke.
»Ich bin Detective Patrick Murphy. Im Ruhestand, genauer gesagt, ehemals bei der Connecticut State Police, Dezernat für Kapitalverbrechen. Ich bin unlängst auf eine Spur gestoßen, die einen alten Fall betrifft und hierher führt – nach Cape Hawk. Ich suche eine Frau, die vor neun Jahren spurlos verschwand. Mara Jameson aus Black Hall, Connecticut. Sie war damals hochschwanger, hätte also heute ein neunjähriges Kind. Das ist ein Foto von ihr …«
Sie nahm ihm das Foto aus der Hand; ihr Herz drohte auszusetzen. Das war sie, ganz eindeutig, ihre Freundin mit den strahlenden Augen, die in die Kamera lachte, als sei sie die glücklichste Frau der Welt.
»Woher haben Sie das?«
»Sie kennen sie?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Anne versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie schluckte, um Zeit zu gewinnen. Man hätte meinen können, das Foto sei erst gestern aufgenommen worden – statt vor neun Jahren. Ihre Nanouk-Freundin hatte sich kaum verändert …
In dem Moment blickte sie zufällig aus dem Fenster und entdeckte Marisa und Jessica Taylor, die vom Hafen aus den Hügel erklommen. Jessica war schwer beladen, trug eine große Tasche – die offenbar weitere Kiefernnadelkissen enthielt. Anne versuchte, Marisas Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um sie unbemerkt zur Rückseite des Gebäudes zu lotsen – doch vergebens. Marisa strahlte – die Ängste und düsteren Gedanken, die ihr bei der Ankunft auf Cape Hawk ins Gesicht geschrieben standen, hatten sich in den letzten Wochen offenbar verflüchtigt.
Wie beiläufig umrundete Anne den Empfangstresen, nahm den pensionierten Polizisten am Arm und geleitete ihn auf die Veranda hinter dem Haus – auf die andere Seite des Eingangs, dem Marisa zustrebte. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie musste unbedingt mit ihrer Nanouk-Freundin Kriegsrat halten, bevor sie sich dazu entschloss, dem Detective etwas zu erzählen.
»Ich möchte Ihnen helfen. Sie sagten, dass Sie mit Camille sprechen wollen? Nun, das lässt sich einrichten.«
»Und was ist mit dem Foto?«, drängte er. »Sind Sie Mara Jameson schon einmal begegnet?«
»Ihr Gesicht kam mir im ersten Augenblick bekannt vor. Aber ich glaube nicht, dass ich ihr schon mal begegnet bin.«
»Ich hätte schwören mögen …«, sagte der Ex-Polizist, der mit einem Mal niedergeschlagen wirkte. Er war blass, jede Sommersprosse
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