Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
mit absoluter Sicherheit«, sagte Liam. »Darauf würde ich jede Wette eingehen, Rose.«
»Warum schwimmt sie dann in die verkehrte Richtung, weg von zu Hause? Weg von uns?«
»Keine Ahnung.« Er legte den Arm um sie. »Vielleicht ist sie verwirrt. Temperaturveränderungen können manchmal Orientierungslosigkeit auslösen. Wir werden sie für den Rest des Tages beobachten – ich wette, dass sie von alleine umkehrt.«
»Sie muss.« Heiße Tränen liefen über Roses Wangen. »Wenn sie sich verirrt, nur weil sie mich gesucht hat, weiß ich nicht, was ich tun soll.«
»Schatz, bitte hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Haben wir dich nicht davon überzeugen können, dass sich manche Dinge dem menschlichen Einfluss entziehen? Bitte, Rose …«
»Ich glaube, es ist an der Zeit für besagte Geschichte«, wandte Dr. Neill ein.
»Die Geschichte von dem Fischadler und der schwarzen Katze«, erklärte Rose, als sie den verwirrten Blick ihrer Mutter sah. »Die du vor zwei Tagen erzählen wolltest, als die Physiotherapeutin ins Zimmer kam.«
»Ach ja«, sagte ihre Mutter, die sich nun erinnerte.
»Es ging um deine Frage, wie so verschiedenartige Geschöpfe Freunde sein könne. Ein kleines Mädchen und ein weißer Wal. Oder ein Fischadler und eine schwarze Katze.«
»Erzähl«, bat Rose.
»In der Welt der Biologie vertragen sich manche Tiere recht gut miteinander, während andere von Natur aus Feinde sind. Wieder andere verhalten sich neutral – sie leben in enger Nachbarschaft und begegnen sich grundlegend mit Respekt. Was in der Tierwelt bedeutet, dass sie einander weder fressen noch bekämpfen.«
»Das ist leichter gesagt als getan«, murmelte ihre Mutter und blickte zum Fenster hinaus.
»Also, es war einmal ein Fischadler. Ein uralter, mit zerrupftem Federkleid, in dessen linker Schwinge sich ein Angelhaken verfangen hatte. Er war mitten in einen Heringsschwarm hinabgetaucht, und ein Fischer hatte ihn versehentlich erwischt. Die Angelschnur war so straff gespannt und hart, dass der Flügel des Adlers brach, als er sich loszureißen versuchte.
Die jungen Fischadler machten sich über ihn lustig. Sie schenkten ihm keinerlei Beachtung, schlossen ihn aus ihrer Gemeinschaft aus. Deshalb flog er davon, ganz alleine, zu den niedrigen dunklen Klippen – du weißt schon, an der Spitze des Fjords, wo die Bäume so dicht wachsen, dass kaum jemals Licht hindurchscheint.
Aber der Fischadler war ziemlich klug. Es gelang ihm, Fisch zu fangen, trotz des gebrochenen Flügels. Er genas – Knochen, Sehnen und Federkleid heilten. Er hockte Tag für Tag an den Ufern des Fjords und entwickelte ein so gutes Gespür für den richtigen Zeitpunkt, dass er die silberglänzenden Heringe und Lachse aus dem Wasser klauben konnte, ohne seine Schwingen ausbreiten zu müssen.
Keiner der anderen Adler kam jemals in diese entlegene Gegend. Der Fjord war unheimlich und malerisch zugleich, aber er gehörte ihm allein. Niemand machte ihm die Fische streitig. Bis er eines Tages eine schwarze Katze erspähte, die am gegenüberliegenden Ufer saß.
Ihr Fell glänzte, so dass er sie zunächst für eine Robbe hielt. Es war schwarz und glatt, und sie hatte grüne Augen, die heller leuchteten als jeder Stern. Aber sie wirkten nicht glücklich. Es waren Augen, die viele Gefahren gesehen hatten – Grausamkeit, Gewalt und Hunger. Sie war klapperdürr, doch sie fing ständig Fische, genug, um eine ganze Katzenkompanie zu verköstigen.
Eines Tages beschloss der Fischadler, diesem seltsamen Treiben auf den Grund zu gehen. Fischadler haben scharfe Augen, auch wenn ihre Flügel gebrochen sind. Er sah sie durch das Gebüsch schleichen, einen großen Fisch im Maul. Als Füchse und Dachse versuchten, ihr die Beute abzujagen, wehrte sie sich ihrer Haut und schlug sie in die Flucht. Keinem Tier gelang es, ihr den Fisch zu entwenden – und der Fischadler entdeckte auch, warum.«
»Warum?«, fragte Rose, als das Taxi in den Tunnel unter dem Boston Harbor fuhr.
»Weil sie ein Junges hatte. Ein winziges, klapperdürres schwarzes Kätzchen mit Augen, die genauso leuchteten wie die seiner Mutter.« Dr. Neill blickte über ihren Kopf hinweg ihre Mutter an und schluckte, bevor er fortfuhr. »Der Fischadler war nicht daran gewöhnt, dass andere Tiere in seinem Revier des Fjords fischten. Er hatte sich an seine Ungebundenheit, an das Alleinsein gewöhnt.
Aber irgendwie war er froh, dass die Katze da war. Er begann sich darauf zu freuen, sie am anderen Ufer
Weitere Kostenlose Bücher