Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
zu dem Schluss, dass ›Lily‹ nicht ihr richtiger Name war. Aber es war so offensichtlich, dass sie ihre wahre Identität geheim halten wollte, dass wir kein Wort darüber verloren.«
»Es wäre uns im Traum nicht eingefallen, sie zu bedrängen«, erklärte Doreen.
»Ihr habt nicht einmal unter euch darüber gesprochen?«, fragte Marisa.
Anne schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Es hat lange Zeit gedauert, bis mir etwas aufgefallen ist. Ihre Haare waren raspelkurz, als sie hier ankam – fast wie bei einem Jungen. Anfangs trug sie noch eine Schildpattbrille. Sie versuchte, ihre Schwangerschaft unter riesigen T-Shirts zu verstecken. Doch im Lauf der Zeit wuchsen die Haare nach, und die Brille verschwand. Ich nehme an, dass sie sich nach und nach sicherer fühlte.«
»Schließlich machte sie erste Andeutungen über ihre Ehe, die Gewalttätigkeiten ihres Mannes«, sagte Cindy zu Marisa. »Das war der erste Schritt auf dem Weg zur Genesung. Sie öffnete sich, vertraute sich uns an. Es spielte für uns keine Rolle, woher sie kam. Wir wollten ihr nur bei der Erkenntnis helfen, dass keine Frau eine derartige Behandlung verdient hat.«
»Ich wusste, wer sie war«, sagte Marlena ruhig. »Ich habe Satellitenfernsehen und konnte die Lokalnachrichten aus den Staaten empfangen. Ihr Schicksal fesselte mich schon damals – noch bevor sie hierherkam. Ein Ehemann, attraktiv und allseits beliebt, die schöne junge Ehefrau hochschwanger, mit einem strahlenden Lächeln.«
»Warum hat dich die Geschichte so fasziniert?«, fragte Marisa.
»Weil ich unbedingt wissen wollte – waren die beiden ein ideales Paar? Oder hatte er sie eiskalt ermordet? Das perfekte Verbrechen begangen?«
»Gute Frage«, ließ sich Detective Murphy vernehmen, der das Gespräch belauscht hatte und sich nun zu ihnen gesellte. »Sehr gute Frage.«
»Haben Sie damals die Ermittlungen geleitet?«, fragte Marisa.
»Ja.« Er hatte feuerrote Haare mit weißen Fäden an den Schläfen, ein sommersprossiges Gesicht und ein jungenhaftes Grinsen – was Marisa überraschte. Wider Erwarten schien er keineswegs darüber wütend zu sein, dass man ihn so lange an der Nase herumgeführt hatte.
»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen? Dachten Sie, ihr Mann hätte sie umgebracht?«
»Davon war ich überzeugt.«
»Warum?«, wollte Marisa wissen. Er sah an den Frauen vorbei; sein Blick war ausschließlich auf sie gerichtet, als wären sie ganz allein im Raum.
»Weil er ein Schurke ist.«
»Wieso? Sie haben doch gerade gesehen, dass Mara – Lily – lebt, dass er sie nicht getötet hat; woher wollen Sie dann wissen, dass er ein Schurke ist?«
Patrick Murphy starrte sie an, als wollte er ihr das eigene Schicksal von den Augen ablesen. Wenn er das könnte, dachte sie, würde er zu der Ansicht gelangen, dass ihr Mann ebenfalls ein Schurke war.
»Weil ich das Blut in der Küche gesehen habe.«
»Sie haben es ja gehört, er hat sie nie geschlagen.«
Patrick zuckte die Achseln. »Ich habe das Blut gesehen. Irgendwie muss es ja dorthin gekommen sein. Eine Menge Blut, also hat sie wahrscheinlich eine Zeitlang auf dem Boden gelegen. Er hat ihr einen Stoß versetzt, mit voller Wucht, und was noch schlimmer ist, er hat das Ganze als Versehen hingestellt – damit sie dachte, dass sie unter Zwangsvorstellungen leidet. Ich habe im ersten Jahr nach ihrem Verschwinden zahlreiche Zeugen befragt … Mara Jameson hat versucht, ihren Mann zu schützen, und jedem die Geschichte von der glücklichen Ehe aufgetischt. Aber die Ehe war alles andere als glücklich. Und er war alles andere als ein vorbildlicher Ehemann.«
»Ist er noch – auf freiem Fuß?«
Patrick nickte. »Ja.«
In dem Augenblick kehrte Anne schwer beladen aus ihrem Büro zurück: Sie schleppte den Korb mit den Kiefernnadelkissen und die Staffelei mit dem Plakat herbei, auf dem das Foto von Lily und Rose zu sehen war. Marlena half ihr, die Auslage auf dem Empfangstresen wieder aufzubauen. Anne hatte alles verschwinden lassen, als Patrick begann, Fragen zu stellen, weil sie wusste, dass er Lilys Bild erkennen würde.
Marisa bemerkte, wie Patrick den Tresen musterte, der mit CDs, Postern und Bildern der Keltischen Musikgruppen überladen war, die im Rahmen des anstehenden Ceili-Festivals gegeneinander antraten. Ein kleines Lächeln kräuselte seine Lippen.
»Was ist?«, fragte Marisa.
»Das alles hier.« Patrick machte ein ausholende Geste in Richtung der vielen CDs. »Eine Welt mit Musik wie dieser
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