Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
trocken. »Ich bin im Ruhestand.«
»Na gut, spreche ich mit Detective Murphy im Ruhestand? «
»Ja?«
»Mein Name ist Marisa Taylor. Wir sind uns vorhin begegnet.«
»Richtig. Die Fiddlespielerin. Diejenige mit der neunjährigen Tochter. Haben sich alle blendend darüber amüsiert, dass ich sie für Maras Kind gehalten habe?«
Es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. »Davon kann keine Rede sein.«
Patrick schwieg, und in der Stille, die eintrat, klickte es in seinem Kopf. Es ging nicht um ihn. Mara war nicht untergetaucht, um seine Pläne zu durchkreuzen. Er hörte in Marisas Stimme die gleiche Angst, die Mara dazu bewogen hatte, alles stehen und liegen zu lassen und die Flucht zu ergreifen. Sein Magen verkrampfte sich.
»Was gibt es, Marisa?«
»Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen. Ich weiß, das fällt nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich, aber ich hätte eine Frage. Könnten Sie rüberkommen?«
»Natürlich.«
Sie beschrieb ihm den Weg – Kettenbrücke überqueren, an der Schlucht links abbiegen, an der Sägemühle vorbei; diese Marksteine in der Landschaft entsprachen der Vorstellung von einem entlegenen Ort, an dem eine Frau Zuflucht suchen würde. Seit seiner Ankunft auf Cape Hawk hatte Patrick das Gefühl, in einer Achterbahn zu sitzen, und es sah nicht so aus, als ob sich die rasante Fahrt dem Ende zuneigte.
Er knöpfte sein Hemd zu, schnallte sein Schulterholster um und versuchte ein weiteres Mal, Maeve zu erreichen – wenn sie sich bis morgen nicht gemeldet hatte, würde er sich langsam Sorgen machen. Dann eilte er zur Tür hinaus. Warum Marisa auch angerufen haben mochte, er war froh, dass er sich wieder mit der Aufklärung von Verbrechen befassen konnte.
Die Schotterstraße hätte einem Fantasy-Roman entstammen können – sie schraubte sich in die schwindelnden Höhen der Felsenklippen empor, zu beiden Seiten gesäumt von hohen Bäumen, die einen undurchdringlichen, urzeitlichen Wald bildeten. Patrick erspähte eine Elchfamilie, die ihn aus dem Gebüsch am Straßenrand beobachtete. Kurz danach trottete ein Schwarzbär auf die andere Seite. Eulenrufe ertönten, und ein dunkler Schatten stürzte sich im Steilflug auf ein Beutetier: Die Schreie des Opfers waren durchdringend, bis sie dann jäh verstummten.
Patrick focht das nicht an. Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit im Dezernat für Kapitalverbrechen wusste er, dass Menschen zu viel größerer Grausamkeit fähig waren als die schlimmsten Raubtiere in freier Wildbahn. Er verstand, warum eine misshandelte Frau diese Umgebung als tröstlich empfand. Sie lag weitab von jeglicher Zivilisation – in Amerika treffender als ›Suburbia‹ bezeichnet – wo sich jedermann kleidete, redete und handelte, wie es sich gehörte. Er hatte gesehen, was sich hinter dieser gutbürgerlichen Fassade abspielte, hinter den verschlossenen Türen der adretten Häuser, Mara Jamesons eingeschlossen.
Er bog in die Zufahrt zu Marisas Haus ein und sah sie auf der Türschwelle stehen. Ihre Silhouette zeichnete sich vor dem Hintergrund ab, und ihre locker fallende Baumwollbluse kräuselte sich im Sommerwind. Er musste sich vor Augen halten, dass sie ihn in seiner Eigenschaft als Polizist zu sich gebeten hatte.
»Hallo«, sagte sie, als er ausstieg und näher trat.
»Hallo.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war, Sie hierher zu bemühen.« Nervös schlang sie die Arme um sich.
»Warum?« Sie hatte wunderschöne Augen, braun und samtig, weich und intelligent. Sie sah ihn an.
»Weil ich vor einiger Zeit schon einmal versucht habe, eine einstweilige Verfügung zu erwirken. Man hat mir nicht geglaubt, der Antrag wurde abgelehnt.«
»Tut mir leid«, sagte er verhalten. Es lag ihm nicht, seine Mitstreiter im Gesetzesvollzug öffentlich an den Pranger zu stellen. Aber er wusste, dass es Beschwerden gab, wenn es um häusliche Gewalt ging – vor allem in der oberen Gesellschaftsschicht, wenn der Ehemann erfolgreich und eloquent war. Wenn sich die Frau endlich dazu aufraffte, um Hilfe zu bitten, lief sie Gefahr, für verrückt gehalten zu werden – weil er sie so weit getrieben und sie ihn so lange geschützt hatte.
»Meine Tochter ist heute Abend nicht da«, sagte Marisa. »Ich dachte, ich könnte kurz mit Ihnen reden. Und Ihnen etwas zeigen.«
»Sicher.« Sie war groß, schlank und anmutig, doch ihre Bewegungen wirkten unsicher – als habe es ihr lange an Selbstbewusstsein gemangelt. Sie warf ihm über die Schulter einen
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