Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Frühstückspension – und sie obendrein in die Verlegenheit zu bringen, ihrem Gast ein Käsesandwich mit einem solchen Trara vorzusetzen, wie ein Spitzenkoch um ein Cordon bleu machen würde! Großer Gott, die Nanouks würden sie bis an ihr Lebensende damit aufziehen.
Und dann die Geistesgegenwart, Marisa aus der Gefahrenzone zu bringen und ihr einzuschärfen, Jessica zu verstecken – so lange, bis sie Luft rein war und sie sicher sein konnten, dass Murphy abgereist war – woher stammte die? Egal, sie hatte jedenfalls alles unter Kontrolle, eine Schnelldenkerin, die sich vergewisserte, dass keiner ihrer Freundinnen Unheil drohte.
Sie hatte die Nanouks zur Unterstützung zusammengetrommelt und alle, die es einrichten konnten, waren gekommen – Cindy, Doreen, Alison, Suzanne, Kathy, Paula, Claire, ja sogar Marlena, die gleich nach Patrick Murphy eintraf. Sie umringten ihn, reichten das vertraute Foto – wie jung, heiter und unbedarft sie darauf aussah – weiter. Die Reaktion war abgesprochen: »Das Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor.«
Eine Bemerkung über ihre Haare, ihr Lächeln, ihre strahlenden Augen. Eine liebenswerte Frau, hochschwanger mit dem kleinen Mädchen, das sie alle ins Herz geschlossen hatten. Allein der Gedanke – das Wissen, wovor sie geflohen war – trieb Anne die Tränen in die Augen. Sie trocknete sie, aber sie kamen immer wieder.
»Heilige Muttergottes«, japste Cindy.
Anne hob den Blick: Camille humpelte an ihrem Stock durch die Eingangshalle, auf dem Weg zum Privattrakt der Familie und kam direkt auf sie zu. Anne verspürte den Drang, loszulaufen und sie aufzuhalten, doch das wäre zu offensichtlich gewesen, und deshalb beherrschte sie sich.
»Guten Abend.« Camille musterte Anne mit einem sonderbaren Blick. »Arbeitest du heute Abend nicht?«
»Genny ist heute für den Speisesaal zuständig.«
»Dieser Herr ist mir vorhin schon aufgefallen.« Camille wandte sich Patrick zu. »Als er sich mit dir im Garten unterhielt. Wo steckt Jude? Immer noch mit dem Boot unterwegs?«
»Ja.«
»Hallo, Camille«, warf Marlena von der gegenüberliegenden Seite des Kreises ein. Sie versuchte die Situation zu entschärfen, aber Anne wusste, dass nun alles verloren war.
»Camille Neill?«, fragte Patrick.
»Ja. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Mein Name ist Patrick Murphy. Sind Sie dieselbe Camille Neill, die in diesem Artikel erwähnt wird?«
Camille setzte ihre Lesebrille auf und warf einen Blick auf den vergilbten Zeitungsausschnitt. Sie schnappte nach Luft und sah Patrick an. »Er stammt aus einer Zeitung, die in Ard na Mara erscheint – es geht um Frederics Denkmal. Was wollen Sie damit? Kannten Sie Frederic?«
»Nein, Ma’am. Ich ermittle in Fall Mara Jameson, die vor neun Jahren spurlos verschwand.« Er nahm Cindy das Foto aus der Hand und reichte es Camille. »Kennen Sie die Frau?«
Anne schlug das Herz bis zum Hals. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Camille mit der Wahrheit herauskam und Patrick wusste, wo er zu suchen hatte. Verzweifelt blickte sie zur Bürotür hinüber – und erstarrte. Marisa und Jessica kamen gerade heraus und strebten der Gruppe zu.
Camille räusperte sich, sah Anne aus den Augenwinkeln an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich kenne sie nicht«, antwortete sie entschieden.
Doch es war zu spät. Anne traute ihren Augen nicht. Sie starrte Marisa an, deren Haltung eine nie da gewesene, eiserne Entschlossenheit verriet. Jessica eilte ihr voraus, stürzte sich in den Kreis, vor die Augen von Patrick Murphy. Er wandte sich um, sein großer, hochgewachsener Körper drehte sich um die eigene Achse, als hätte er das neunjährige Mädchen bemerkt, und sah sich nun nach der Mutter um – in dem Moment öffnete sich die Eingangstür des Gasthofs.
Liam, Lily und Rose standen auf der Schwelle.
Mit einem Mal brach die Hölle los, als alle durcheinanderriefen, aufschrien, lachten und weinten. Die Nanouks eilten mit ausgebreiteten Armen durch die Lobby, um Lily und Rose zu begrüßen. Marisa und Jessica waren als Erste an der Reihe, und die vier umarmten und küssten sich, vergossen Freudentränen, während die übrigen Nanouks mit verschränkten Armen eine Mauer um sie bildeten, ihnen nahe sein wollten.
Anne nahm Camilles Hand, hielt sich im Hintergrund mit Patrick Murphy an ihrer Seite. Camille drückte ihre Hand, und sie erwiderte den Druck.
»Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, meine liebe Anne«, flüsterte Camille.
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