Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
jemand im Gebüsch versteckte – auch wenn sie weit von Boston und Ted entfernt war, ließ sie noch immer ein Höchstmaß an Vorsicht walten – und betrat das Haus, allein.
Sobald die Wahrheit ans Tageslicht gekommen war und sie merkte, dass ihrer Freundin weder Ärger noch Gefahr drohte, gelang es Anne, wie von Zauberhand für Patrick ein Zimmer im Gasthof aufzutreiben. Er beteuerte, dass er nicht nachtragend sei, und erklärte Marlena, es täte ihm leid, das Frühstück zu verpassen, was immer sie ihm auch vorgesetzt hätte. Eine keltische Band spielte im Hintergrund – die Musik war so schön und bezaubernd, wie Patrick es mochte.
»Warum kommen Sie nicht herein und hören eine Weile zu?«, fragte Anne. »Sie können Jude und mir dabei behilflich sein, die Band zu beurteilen. Wir machen uns für das diesjährige Sommer-Ceili-Festival bereit, bei dem es einen Wettbewerb um den Preis als beste Band gibt. Wollen Sie uns nicht begleiten?«
Patrick zögerte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. Er war zu aufgedreht, um still zu sitzen. Darum ging er auf sein Zimmer, das am hinteren Ende des ersten Stocks lag, und warf seine Reisetasche aufs Bett. Eine Dusche war jetzt genau das Richtige, um seine angespannten Nerven zu beruhigen. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er Mara gefunden hatte – oder vielmehr Lily – keine Ahnung, wie er sie jetzt nennen sollte.
Als er aus der Dusche kam, schlang er ein Handtuch um die Taille und versuchte erneut, Maeve anzurufen. Wieder schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Er musste sich zusammenreißen, um nicht mit einem ganzen Sammelsurium von Nachrichten herauszuplatzen: »Raten Sie mal, was passiert ist – ich habe Ihre Enkelin gefunden. Zu dumm, dass ich der Einzige war, der sie für vermisst hielt!« Oder: »Hallo, Maeve – Mara lebt, und es geht ihr blendend. Danke, dass Sie ein Staatsgeheimnis daraus gemacht haben – wenigstens habe ich die Suche nach ihr bezahlt bekommen, solange ich noch im Dienst war.«
Er legte auf, knallte das Telefon aufs Bett. Es war schwer, Freude aufkommen zu lassen – die er wirklich empfand –, wenn man verbittert war. Seine Gefühle waren eher gemischt, gelinde gesagt.
Wen konnte er sonst anrufen? Sandra – um ihr mitzuteilen, dass er das Verbrechen, das im Übrigen gar keines gewesen war, nun offiziell aufgeklärt hatte. Vielleicht nahm sie ihn ja wieder auf, wenn er reumütig darum bat. Er konnte regelrecht hören, wie sie ihn auslachte. Wegen eines Verbrechens, das keines war, hatte er ihre Ehe geopfert. Der große Detective, der alle Fäden in der Hand hielt, alles von Anfang an unter Kontrolle hatte.
Er könnte Angelo anrufen. Angelo, der Boot und Hund – die Probable Cause und Flora – hütete, würde an Deck sitzen, sich ein Spiel der Yanks anhören, den Mond betrachten, der über Silver Bay aufging, und die Gesellschaft des treuen Vierbeiners genießen. Angelo gehörte nicht zu der Sorte Freunde, die es ihm unter die Nase reiben würden, nach dem Motto: »Hab ich doch gleich gesagt« – oder doch? Er wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen. Er fühlte sich ›zerbrechlich‹, um die Eheberaterin zu zitieren, die er ein paar Mal mit Sandra aufgesucht hatte, zu Sitzungen, in deren Verlauf sie ihm eröffnete, dass sie ihn verlassen würde.
»Zerbrechlich!«, schnaubte er und begann, Hose und Hemd anzuziehen. Na und, dann waren seine Ehe und Karriere eben im Eimer! Und er war ein Rentner, der zum alten Eisen gehörte und sich von einer Meute überkandidelter Frauen vor und in der Menopause zum Narren halten ließ! Sehen wir den Tatsachen ins Auge, der Abstecher ins Rose Gables war doch nur das Tüpfelchen auf dem i gewesen!
Patrick Murphy beschloss, seinen Kopf auszulüften und einen Spaziergang zum Kai zu machen. Dort gab es wenigstens Männer und Fischerboote. Vielleicht auch das eine oder andere Bier. Er hatte seit acht Jahren keinen Tropfen mehr angerührt, aber heute Abend war vielleicht ein guter Zeitpunkt, um vom Pfad der Tugend abzuweichen. Er spürte beinahe die Erleichterung, die sich einstellte, wenn der Seelentröster brennend durch die Gurgel rann und sich wie ein heißer Draht im Körper ausbreitete.
Er hatte bereits eine Hand auf der Türklinke, als das Telefon läutete.
Nicht sein Handy – also konnte es kein Rückruf von Maeve sein. Nein, das Haustelefon. Er nahm den Hörer ab.
»Detective Murphy?«, sagte eine Frauenstimme.
»Nicht offiziell«, erwiderte er
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