Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
mit solcher Wucht, dass ich in hohem Bogen durch die Luft flog. Als ich von oben herabblickte, sah ich den Kopf des Hais außerhalb des Wassers, mit meinem Brett zwischen den Zähnen. Ich landete auf seinem Rücken, krachte gegen die Schwanzflosse, die mindestens einen halben Meter hoch war. Ich rollte herunter, und er drehte sich um und stieß mich an – direkt in die Armbeuge. Bei dem Aufprall erhielt mein Surfanzug einen Riss, und ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen – doch der Hai tauchte einfach ab und verschwand in den Wellen.«
Die Worte besaßen ihre eigene Kraft: Liam hatte das Gefühl, dabei gewesen zu sein, als der Hai die Oberfläche des Wassers durchbrach, zu sehen, wie sich die mächtige Rückenflosse aus dem Meer erhob. Er schloss die Augen; er erinnerte sich an das erste und schlimmste Mal, als er Zeuge einer solchen Urgewalt geworden war, an die Flosse, die dem schwarzen Segel auf einem Teufelsboot glich. Mit geschlossenen Augen sah er, wie sich das Wasser in seiner Vorstellung blutrot färbte … Als er sie wieder öffnete, war sein Blick auf den Hafen von Cape Hawk gerichtet, wo sich die Dunkelheit endlich über dem Wasser herabsenkte, sich auf der spiegelglatten Oberfläche ausbreitete und das Blut vertrieb.
Liam machte sich Notizen, schrieb den Namen des Mannes und seine Adresse auf. Er blickte kurz auf seine Uhr – vielleicht sollte er ihn anrufen und seinen Bericht gleich abschließen. Aber es war Freitagabend, zehn nach neun, deshalb beschloss er, es zu lassen. Nicht nur aus Höflichkeit, sondern, weil er es satthatte, als arbeitswütig zu gelten, als Besessener, der nichts als Haie, Haiattacken und die Opfer solcher Angriffe im Kopf hatte, ob sie überlebt hatten oder nicht.
Er schaltete den Computer aus, stand auf und streckte sich. Dann löschte er die Lichter, schloss die Tür seines Büros ab und trat in die imposante alte Eingangshalle von Tecumseh Neill hinaus. Der Kandelaber, ein Original, verbreitete sein sanftes, einladendes Licht. Es überflutete die Wandbehänge – überwiegend von Lily gefertigt, aber auch die Kinderzeichnungen von Rose. Liam stand reglos in der Halle, betrachtete die Stickbilder. Die Eingangshalle, der Mittelpunkt des Gebäudes, war in seinen Augen der anheimelndste Ort, den er kannte. Zu Hause ist dort, wo das Herz ist, hieß es auf Lilys Stickmuster-Tuch. Seltsam, den Arbeitsplatz zu verlassen, um nach Hause zu gehen … Er fühlte sich in dieser Eingangshalle, die bis auf ein paar Wandbehänge leer war, von ganzem Herzen zu Hause.
Er trat in das trübe Dämmerlicht hinaus und ging zu seinem Wagen. Klangfetzen, mitreißend und romantisch, wehten vom Gasthof herüber. Er zögerte, doch das Spiel der Band lockte ihn. Die Küche hatte inzwischen geschlossen, aber er wusste, er würde dort in jedem Fall eine Kleinigkeit zu essen bekommen. Abgesehen davon, konnte er noch einmal mit seinem Cousin sprechen und sich vergewissern, dass für morgen, für Roses Geburtstagsparty, alles vorbereitet war …
Er überquerte die menschenleere Straße, folgte der Musik die Steinstufen hinauf zu dem schmalen Fußweg, der sich über die lange, leicht ansteigende Rasenfläche schlängelte. Weiße Adirondack-Gartenstühle, paarweise angeordnet, boten einen Ausblick auf den Hafen. Die Gäste, die darauf Platz genommen hatten, genossen den Sonnenuntergang und das schwindende Licht des Tages, sahen zu, wie die Sterne aufgingen. Eine Eule strich durch die Lüfte, verschwand hinter dem Gasthof in dem Kiefernwald, der Lilys Haus oberhalb von der Stadt abschirmte.
Im Gasthof schien es für ein frühsommerliches Wochenende ziemlich voll zu sein. Ein Plakat warb für Boru, eine keltische Band, die von Prince Edward Island stammte. Liam stand auf der Schwelle und lauschte dem Spiel von Gitarre, Fiedel und Flöte. Seine Tante Camille, trotz ihres Alters noch rüstig, rauschte auf dem Weg zum Abendessen hoheitsvoll an ihm vorbei. Er wich zurück, ihm war nicht nach einem Verhör dritten Grades durch die Grande Dame der Familie zumute.
»Was hat dich denn hierher verschlagen? Ich kann mich nicht erinnern, wann ich dich zum letzten Mal an einem Freitagabend bei uns gesehen hätte …«
Liam fuhr herum und sah sich Judes Frau Anne gegenüber. Während sich Jude um die Boote und die Walbeobachtungs-Sparte des Familienunternehmens kümmerte, leitete Anne den Gasthof. Sie konnte gleichermaßen gut mit Menschen und Zahlen umgehen, und es gelang ihr, den Betrieb
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