Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
und gewinnträchtigsten Internetadressen war seit einiger Zeit SpiritTown.com. Es war ein Forum für die Anhänger der Rockband Spirit.
Die Band war hinlänglich musikalisch und beliebt genug, um noch zwanzig Jahre nach Erscheinen ihres ersten Albums ganze Stadien und Arenen zu füllen. Man konnte sich den Online-Fangemeinden jederzeit anschließen, um in dieser Friede-Freude-Eierkuchen-Atmosphäre Geld für einen guten Zweck lockerzumachen. Geld für die Rettung des Regenwaldes, für die Freilassung von Strafgefangenen, die einem Justizirrtum zum Opfer gefallen waren, für die Rechte von Frauen, Friedensbewegungen, das ganze liberale Herz-Schmerz-Gesäusel. Seine Frau hatte Spirit geliebt. Die kleine Miss Rettet-die-Welt.
Secret Agent tummelte sich oft auf den Message Boards von SpiritTown. Die Mitglieder dieses Forums pflegten ihre Namen von den Titeln der Spirit-Musikstücke herzuleiten – auf den ersten Blick als solche erkennbar und ein Kinderspiel für ihn, den Hebel anzusetzen. Die Namen boten gewissermaßen eine Gewähr dafür, dass sie das Geld herausrückten, um das er bat – PeaceBabe, One Thin Dime, Wish23, Love-or-die, Lonesome Daughter … Seine Frau hatte sich hier gelegentlich als ›Aurora‹ eingeloggt, aber er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie ihren Benutzernamen nach der Trennung geändert hatte. Er hatte Aurora schon lange nicht mehr in diesen virtuellen Gefilden gesehen …
Er warf einen Blick auf die aktuelle Themenliste – rund die Hälfte aller Programmteile waren Diskussionen über die Musik, die Texte und die Auftritte der Spirits, dazu kamen Bootlegs – nicht autorisierte Mitschnitte von Live-Konzerten. Der Rest bezog sich auf politische Anschauungen und Veranstaltungen, die für Spirit-Fans von Interesse waren. Pech gehabt – er grinste stillvergnügt in sich hinein, als er sich anschickte, seine Nachricht einzutippen. Diese Leute bettelten geradezu darum, an der Nase herumgeführt zu werden – kümmerten sich um alles und jeden. Egal, ob ›Früherkennung von Brustkrebs‹, ›Der Hunger in der Welt‹ oder ›Hilfe für bedürftige Kinder‹.
Er hatte sich vor sechs Monaten als Mitglied registrieren lassen und sich während dieser Zeit sechstausend Mal zu Wort gemeldet. Er hatte sich als glühender Spirit-Fan (Lüge), als Sammler der CDs der Band (Lüge), als linkslastiger Demokrat (absolut gelogen) und als geschiedener Vater von zwei Töchtern ausgegeben (teilweise richtig). Sein Benutzername, Secret Agent, war einem der größten Hits der Spirits »Spy on You« entlehnt: »I look through your window, I come through your door/I know why you’re hiding, I know what it’s for/You’re afraid of the world, afraid of its pain/I’m your Secret Agent, I’ll make you brave again …« [1]
Er verschlang seinen zweiten Burrito und schickte sich an, ein bisschen Geld zu verdienen. Er klickte den Neue-Themen-Button an und gab als Überschrift ›Hurrikan-Opfer‹ ein. Sein Benutzername, Secret Agent, tauchte auf. Dann schrieb er in den Nachrichtenbereich: »Hallo, alle miteinander – habt ihr von dem furchtbaren Unwetter gehört, dem ersten Hurrikan in diesem Jahr? Hat schwere Verwüstungen im Süden von Florida angerichtet. Die Familie meiner Schwester hat ihr ganzes Hab und Gut verloren. Buchstäblich alles. Das Hausdach flog davon. Und Jake, mein Neffe, wurde von den Glassplittern der Fensterscheibe getroffen – es ist ein Alptraum.«
Er schickte die Mitteilung ab. Der Hinweis, »Ihre Nachricht wurde gesendet«, erschien auf dem Bildschirm. Er klickte auf den Rückkehr-zum-Forum-Button, dann lehnte er sich zurück und wartete auf Antworten.
Secret Agent war immer noch hungrig. Er ging in die Küche, schob drei weitere Burritos in die Mikrowelle. Er rechnete sich aus, dass der Rubel rollen würde, noch bevor er an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war. Es war Abendbrotzeit, die bevorzugte Zeit aller notorischen Verlierer, um sich einzuloggen und sich mit Freunden auszutauschen – zurück von der Arbeit, alleinstehend oder nicht in Stimmung für ein Gespräch mit dem Göttergatten oder der liebenden Gemahlin.
Die Mikrowelle klingelte, und er aß im Stehen an der Frühstückstheke. Auf diese Weise hatte er die Kühlschranktür im Blick: Bilder von seiner Frau und Grace bedeckten die gesamte Fläche. Schnappschüsse von den beiden, manche sogar mit ihm zusammen – wenn auch nur selten, er ließ sich nicht gerne fotografieren. Er wischte sich
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