Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Gedanken kreisten ständig um ihn. Sonderbar. Wenn es ihr schlechtging und sie ihn brauchte, war er jedes Mal zur Stelle gewesen. Er hatte sich am steinernen Fischer auf den Boden gekniet, ihre Hand gehalten und sie wissen lassen, dass sie nicht allein war. Hätte sie einen Vater gehabt, hätte er genauso gehandelt. Er wäre bei ihr geblieben und hätte sie in die Arme genommen. Er hätte sie mit seiner Liebe und Fürsorge umhüllt.
Dr. Neill war riesengroß. Er hatte einen Augenblick lang seinen Arm um sie gelegt, als sie die meiste Angst gehabt und gemeint hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Rose schloss die Augen, und ihr schwanden fast die Sinne. Sie wünschte sich einen Vater, der sie umarmte und liebte. Ihre Freundinnen hatten alle einen Vater – sogar Jessica, deren Vater ein Stiefvater war; aber das spielte keine Rolle.
Rose spürte ihren Herzschlag durch das grüne T-Shirt. Sie wünschte sich verzweifelt, dass ihr Herz wieder gesund würde. Sie hatte eine Mutter, die sie liebte. Alles, was ihr fehlte, war ein Vater. Alle Geburtstags-Stickbilder, alle Partys und alle Operationen der Welt konnten diesen Platz nicht ausfüllen.
Warum sträubte sich ihre Mutter so sehr dagegen, dass Dr. Neill zu ihrer Party kam? Selbst wenn sie ihn nicht mochte – aber Rose war nicht auf den Kopf gefallen, tief in ihrem Inneren wusste sie, dass ihre Mutter ihn sehr wohl mochte –, sollte sie ihr erlauben, einzuladen, wen sie wollte. Auch wenn die anderen Kinder sich vor seinem künstlichen Arm fürchteten und ihn Captain Hook nannten – Rose liebte ihn. Sie wusste, wenn sie sich einen Vater aussuchen dürfte, müsste er genau wie Dr. Neill sein.
Er würde Wale, Delfine und sogar Haie mögen. Er würde nicht aufgeben, nur weil ein Teil seines Körpers nicht richtig funktionierte. Und er würde sich ungeachtet dessen, womit er gerade beschäftigt war, immer die Zeit nehmen, einem kleinen Mädchen zu helfen, das mit schmerzendem Herzen auf dem Sockel des steinernen Fischers saß.
Er würde, er würde …
Kapitel 5
D er Schreibtisch von Secret Agent war sein Fluggerät. Wenn er auf seinem Aeron-Stuhl saß und auf die Tastatur seines Dell-Laptops einhämmerte, konnte er sich genauso gut überall in den USA befinden. Er konnte sich ins drahtlose Netzwerk einklinken und auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik, auf dem Atlantik oder im Indischen Ozean herumkurven, wo auch immer. Oder sich in Frankreich aufhalten, in Paris. Oder Akron, Ohio; Hartford, Connecticut; Phoenix, Arizona; Walla Walla, Washington. Nicht zu vergessen Vancouver oder Toronto. Oder der Südpol. In Wirklichkeit befand er sich im North End von Boston, über einem Café, das den ganzen Tag nach Espresso roch.
Das Apartment war klein, aber das musste niemand erfahren. Es hätte genauso gut eine feudale Penthouse-Wohnung an der Park Avenue in Manhattan, eine Ranch in Montana oder ein Strandhaus an der Küste von Jersey sein können, mit dem Atlantik vor dem einen und der Barnegat Bay vor dem anderen Fenster – oder ein Anwesen in der Nähe von South Beach, nicht weit von der Stelle entfernt, an der dieser Psychopath den Modemacher Gianni Versace vor ein paar Jahren umgebracht hatte. Oder das Haus nebenan, mit dem braven Familienvater, der sich schinden musste, um die Brötchen zu verdienen und es allen recht zu machen.
Er war hungrig. Bevor er loslegte, holte er sich ein Root Beer und machte sich zwei Rindfleisch-Burritos in der Mikrowelle warm. Stellte den Teller auf den Schreibtisch und schaltete den Computer ein, machte alles startklar. Hatte einen Mordshunger – verschlang den ersten Burrito mit drei Bissen. Wartete darauf, dass der Computer zu klicken aufhörte und er sich einloggen konnte. Wohin zog es ihn heute? Wo sollte das Fluggerät heute Abend landen? An einem Freitagabend …
Seine bevorzugten Homepages: Er scrollte die Liste herunter und überflog sie. Sex, Spiele, Sport, Geschäfte. Doch in Gedanken war er immer auf der Suche: Er fahndete nach einer bestimmten Frau und kannte die Internetseiten, die sie interessierten. Es war ein Vollzeit-Job, dieser Versuch, sie aufzuspüren. Abgesehen davon, hatte er noch ein weiteres Eisen im Feuer: Er konnte die Zeit genauso gut nutzen, um ein bisschen Geld zu verdienen, während er nach seiner Süßen Ausschau hielt – diesem Miststück, das mit ihm verheiratet gewesen war. Heute konzentrierte er sich auf die Rubrik ›Geschäfte‹. Auf seinem Konto herrschte Ebbe. Eine der ergiebigsten
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