Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Tecumseh II, bitte melden – Jude, alles klar? Over.«
Der Lautsprecher gab keinen Ton von sich. Hundert Meter entfernt schaukelte das vierundsiebzig Fuß lange Walbeobachtungsboot auf der Dünung. Die Liam zugewandte Breitseite reflektierte das Licht, blendete ihn. Blinzelnd hob er den Feldstecher an die Augen und sah, wie alle an Deck zum Ruderhaus liefen. Ohne eine Antwort abzuwarten, gab er Gas und preschte über das Wasser.
Liams Herz klopfte, je näher er dem Boot kam. Er ahnte, dass etwas passiert sein musste. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass die stummen Hilferufe die schlimmsten waren. Roses Geburtstag, dachte er. Dieser besondere Tag in ihrem Leben war sonnig und perfekt für eine Walbeobachtungstour, und überdies war Nanny wieder da. Er schien unter einem guten Stern zu stehen. Zählte das nicht?
Dann dachte er an Connor. An das warme Wasser, ideal zum Schwimmen, besser als je zuvor in jenem Sommer … an die verblüffende Anzahl von Walen, die sich in unmittelbarer Nähe des Hafens tummelte … daran, dass Jude und er am Abend zuvor fünfundzwanzig Sternschnuppen gezählt hatten. Wie konnte an einem solchen Tag etwas schiefgehen? Oder am neunten Geburtstag eines kleinen Mädchens?
Nun war er dicht am Boot, umkreiste es mit seinem Zodiac, versuchte abermals, Funkkontakt aufzunehmen. »Geh ran, Jude, sag, was los ist. Jetzt redet schon, irgendwer. Wer ist bei Lily und Rose? Ist jemand bei ihnen?« Er erhielt keine Antwort und beschloss, nicht länger zu warten. Er fuhr rückwärts in einem Halbkreis zum Heck, blickte nach oben und fragte sich, wie er mit nur einem Arm und ohne Leiter an Bord klettern sollte.
Lily wusste, dass keine Zeit blieb, um sich Vorwürfe zu machen, aber das war das Erste, was sie tat: Du hättest nicht so lange mit der Operation warten sollen, du hättest dich über die Empfehlungen des Chirurgen hinwegsetzen sollen, du wusstest, dass sie weitere hypoxämische Anfälle hatte, du wusstest, dass ein Ausflug auf einem Walbeobachtungsboot riskant ist …
Alles war so rasend schnell gegangen.
Jude schrie ihren Namen, und sie wusste auf Anhieb Bescheid. Sie hatte Punsch mit Marisa getrunken – einen perlenden Punsch zur Feier des Tages, Ginger Ale mit Himbeersaft – Roses bevorzugtes Geburtstagsgetränk, dunkelrosa, wie ihre bevorzugten Kletterrosen – dann hörte sie, wie ihr Name gerufen wurde.
Der Ausdruck auf Annes Gesicht: Oh, mein Gott.
Judes Stimme – einer Panik nahe, die sie beide erfasste. Lily ließ den Punsch fallen. Der Pappbecher rutschte ihr aus der Hand, als hätten sich Muskeln und Knochen in Wackelpudding verwandelt, unfähig, etwas festzuhalten. Aber ihre Beine funktionierten. Die Kleidung auf der Vorderseite von Roses Geburtstagspunsch durchnässt, rannte sie durch den großen Salon. Die Nanouks machten ihr Platz. Sie erhaschte einen flüchtigen Eindruck von aufgerissenen Mündern. Wie Zuschauer an der Marathonstrecke, die sie bis zur Ziellinie mit ihrem Jubel anfeuerten. Nur war das kein Jubeln.
Rose lag in Judes Armen, an seine Brust gelehnt. Er machte Anstalten, sie auf den Kartentisch zu legen, aber er schien zu zögern, vielleicht aus Angst, das harte Plexiglas könnte drücken oder sie verletzen, so blau angelaufen und zart wie sie war, oder als wüsste er nicht, was er tun, wohin er mit ihr gehen sollte.
»Atmet sie?«, fragte Anne, stellvertretend für Lily, die bereits bei Rose war, beinahe selbst in Judes Arme kroch, an die Seite ihrer Tochter, das Ohr an ihren Mund, an die Lippen gepresst, die blau waren, noch dunkler als die restliche Haut. Lily betete lautlos, auch nur den Hauch einer Atmung zu spüren – einen einzigen feuchtwarmen Atemzug. Die Sinnesrezeptoren ihrer Haut waren auf Roses Leben ausgerichtet – der Flaum auf ihren Wangen vibrierte, war gerüstet, ein Zeichen der Ausatmung zu empfangen.
»Sie atmet nicht«, hörte Lily sich mit hoher, rauher Stimme sagen.
»Was jetzt?«, fragte Jude.
»Du bist der Kapitän, du kennst dich mit Erster Hilfe aus«, sagte Anne. »Beruhige dich, Jude.«
Erste Hilfe?, dachte Lily. Die Worte zerrissen ihr das Herz. Auch das noch, nach allem, was ihr Kind durchgemacht hatte. Erste-Hilfe-Maßnahmen mussten schon im Säuglingsalter bei ihr angewendet werden, noch vor dem Ende der ersten Lebenswoche. Und seither etliche Male. Rose hatte gekämpft und gekämpft …
»Der Puls ist da.« Jude runzelte die Stirn, als er Roses Handgelenk fühlte.
»In Ordnung, das wollten wir
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