Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Stadt war. Sie fuhren zum Hafen hinunter, parkten vor dem Handarbeitsladen, das In Stitches. Marisa war froh, dass die Tür angelehnt war und das Geschäft geöffnet hatte. Einen Moment lang dachte sie aufgeregt, Lily sei zurück und sei wieder bei der Arbeit. Doch als Jessica und sie hineingingen, stand Marlena hinter der Ladentheke und Cindy füllte die Regale auf.
»Hallo, ihr zwei!«, rief Marlena. »Wie geht’s?«
»Gut«, sagte Marisa. »Habt ihr etwas von Lily gehört?«
»Anne hat mit ihr gesprochen. Sie war vorhin da, um uns mit Kaffee und Muffins zu versorgen, und meinte, Roses Genesung mache rasche Fortschritte. Die Wasseransammlung im Körper ist fast weg, und es heißt, dass man sie in ein paar Tagen nach Boston fliegen will.«
»Das ist ein gutes Zeichen.«
»Du bist Krankenschwester?«, sagte Cindy. »Anne hat es uns erzählt. Eine Medizinerin in unseren Reihen!«
»Bin ich.« Marisa freute es, dass sich die Nanouks Gedanken über sie machten, sie in ihre Reihen aufgenommen hatten.
»Was glaubst du, was es zu bedeuten hat – all diese Komplikationen?«, fragte Marlena. »Die arme Rosie, ihr bleibt auch nichts erspart.«
»Die Fallotsche Tetralogie ist eine komplizierte Krankheit, aber es gibt gute Behandlungsmöglichkeiten, vor allem, wenn die Patientin noch so jung ist.«
»Ich kenne Lily seit Roses Geburt«, erklärte Marlena. »Soweit ich weiß, war sie seither ständig mit ihr im Krankenhaus oder bei irgendeinem Spezialisten.«
»Boston, Melbourne, einmal sogar in Cincinnati«, ergänzte Cindy.
»Cincinnati hat das beste Kinderherzzentrum im ganzen Land«, sagte Marisa.
»Ich glaube mich zu erinnern, dass dort irgendetwas gemacht wurde, was mit der ›Transposition der großen Arterien‹ zu tun hat. Das war für mich Fachchinesisch, aber ich habe mir sagen lassen, es bedeutet, dass sich beide Hauptarterien bei Rose auf der linken Herzseite befanden, statt eine rechts und eine links«, sagte Marlena.
»Genau. Eine Fehlstellung der Aorta«, fügte Cindy hinzu.
»Was ist eine Aorta?«, fragte Jessica, einen ihrer Beutel mit Kiefernnadeln in der Hand.
»Das ist die große Schlagader, die Blut von der linken Herzkammer durch unseren Körper pumpt«, erklärte Marisa.
»Und die Klinik hat sie in die falsche Stellung gebracht?«
»Nein«, sagte Cindy. »Das geschah bei der Geburt. Noch vor der Geburt, im Mutterleib. Keiner weiß, warum, aber die Aorta befand sich auf der falschen Herzseite.«
»Du meinst, das hat Gott ihr angetan?« Jessica klang empört.
Marisa verspürte einen Anflug von Benommenheit, beinahe so, als wäre eine Migräne im Anzug. Doch davon konnte keine Rede sein – der Grund war, dass Jessica eine ausgewachsene religiöse Tirade vom Stapel zu lassen drohte. Das Gesicht ihrer Tochter war vor Entrüstung gerötet – genauso hatte sie auf Ted reagiert, auf seine Kontrollversuche und seine Tobsuchtsanfälle. Statt wütend auf ihre Mutter oder auf Ted zu werden, hatte sie ihren Zorn gegen Gott gerichtet.
» Angetan würde ich es nicht nennen«, meinte Marlena. »Vielleicht hat er damals in seiner unendlichen Weisheit diesen göttlichen Entschluss gefasst, warum auch immer. Wir Menschen verstehen oft nicht, weshalb etwas geschieht.«
»Und das soll ein weiser göttlicher Entschluss sein, wenn ein Baby mit einer Arterie an der falschen Stelle zur Welt kommt?«
»Jessica«, warf ihre Mutter warnend ein.
»Im Ernst. Das macht doch gar keinen Sinn.«
»Gottes Weisheit ist für uns Menschen oft unergründlich«, sagte Marlena, ein wenig nervös. Vermutlich würde sie sich genötigt sehen, ihre Meinung über die beiden neuen Mitglieder der Nanouks noch einmal zu überdenken.
»Stimmt«, pflichtete Cindy ihr bei. »Sie ist ein großes Geheimnis. Ein unergründliches Geheimnis. Marlena, man könnte genauso gut sagen, dass er ihr das angetan hat. Ich glaube, ihr seid alle völlig durcheinander, ich selbst auch, ehrlich gesagt. Wer kann schon begreifen, warum das passiert ist? Der Gedanke, dass unsere Rosie leiden muss …«
»Ist grauenvoll«, ergänzte Marlena. »Und diese Blausucht-Anfälle, seit sie ein Baby war …«
»Wahrscheinlich ist das nicht Gottes Werk. Sondern das des Teufels«, überlegte Jessica.
»Jess, es reicht.« Marisa spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Wenn Jessica über Gott, den Teufel und Ted in Fahrt geriet, gab es kein Halten mehr.
»Gott verletzt keine Menschen. Ich weigere mich, das zu glauben«, entgegnete Jessica.
Marisa
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