Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
drückte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Diese Art von Zärtlichkeit hätte eigentlich dem Vater vorbehalten sein müssen – doch Roses Vater würde sein Kind nie kennenlernen, es nie zu Gesicht bekommen, ja nicht einmal von seiner Existenz erfahren, wenn es nach ihr ging.
»Lily?«, hatte Liam gerufen.
Seine Stimme war ruhig, aber sie hatte einen Beiklang, der sie veranlasste, die Tüte mit den Lebensmitteln auf dem Boden abzustellen und zu ihm zu eilen.
»Was ist?«
Rose wirkte unruhig; sie atmete doppelt so schnell wie normal. Die Schatten der Kiefern, die durch das Fenster fielen, hatten es zunächst kaschiert – der Raum war in violettes, schiefergraues und purpurrotes Licht getaucht –, doch als Lily das Licht einschaltete und es hell im Raum wurde, sah sie, dass Rose blau angelaufen war.
»O Gott, was soll ich tun?«, rief sie, einer Panik nahe.
»Ruhe bewahren. Sie atmet … es besteht keine Erstickungsgefahr. Wir sollten den Kinderarzt anrufen.«
Lilys Hände zitterten so sehr, dass er die Telefonnummer des von Anne empfohlenen Arztes in Port Blaise heraussuchte. Lily war mit Rose zur Generaluntersuchung bei ihm gewesen, und alles schien in Ordnung zu sein. Doch als sie nun mit Dr. Durance telefonierte, stellte er Fragen, die ihr Sorge bereiteten.
»Wirkt Rose manchmal ziemlich unruhig? Geradezu zappelig? Trinkt sie problemlos? Schwitzt sie beim oder nach dem Stillen? Hat die Haut einen leicht bläulichen Schimmer?«
»Ja«, antwortete Lily auf sämtliche Fragen; sie konnte den Gedanken nicht länger verdrängen, dass alles auf das seltsame Vibrieren unter ihren Fingerspitzen hinauszulaufen schien. Ja, ja, ja … Sie erzählte dem Arzt, was sie ertastet hatte, und er meinte: »Klingt nach Herzgeräuschen.«
Waren Herzgeräusche etwas Ernsthaftes? Nein, vermutlich nicht – oder doch? Lily erinnerte sich an eine Schulkameradin, die Herzgeräusche gehabt hatte. Sie hatte sie als Vorwand benutzt, um vom Sportunterricht befreit zu werden – das war alles. Wuchs sich das bei Kindern nicht aus? Auf ihre diesbezügliche Frage hatte Dr. Durance geantwortet: »Normalerweise schon.«
Sie wurden gebeten, Rose in die Praxis zu bringen. Damals hatte Liam zum ersten Mal darauf bestanden, mitzukommen – Lily war zu aufgewühlt gewesen, um abzulehnen. Er fuhr, während sie Rose auf dem Schoß hielt.
Dr. Durance führte eine Standarduntersuchung durch, diagnostizierte Herzgeräusche und überwies Rose umgehend an das regionale medizinische Zentrum für weitere Tests. Dort wurde ein Doppler-Echokardiogramm gemacht, bei dem die Herzfrequenz beobachtet, die Dicke der Herzwand gemessen und die Anzahl der Herzklappen auf dem Bildschirm sichtbar gemacht wurden.
Der Test glich den Ultraschalluntersuchungen, die während Lilys Schwangerschaft zu Hause, in Neu-England, durchgeführt worden waren. Sie wusste, der Arzt würde eine Ultraschallsonde gegen Roses Brust halten, die er hoffentlich angewärmt hatte. Die Hochfrequenzwellen, die in den Brustraum eindrangen, übermittelten Bilder vom Herzen und anderen Körperstrukturen.
Heute, neun Jahre später, ruhte Lilys Hand prüfend auf Roses Brustkorb, während ihre Tochter schlief. Das Ultraschallverfahren fand Rose faszinierend – sie sammelte eifrig die Bilder, die von den Ärzten für sie ausgedruckt wurden, und hatte im Rahmen eines Schulprojekts erläutert, dass es genauso funktionierte wie das Ortungssystem der Fledermäuse bei Dunkelheit – mit Hilfe von Schallwellen, die von den Objekten zurückgeworfen wurden. Abends auf Cape Hawk, wenn sie die schrillen Schreie der Fledermäuse in den Wäldern vernahmen, hatten sie keine Angst, sondern fühlten sich durch die Anwesenheit der kleinen Kreaturen beruhigt.
Gleich die ersten Ultraschalluntersuchungen hatten zur Diagnose der Fallotschen Tetralogie geführt. Sie hatte erfahren, dass Roses bläuliche Hautfärbung von einer Zyanose herrührte – einer verminderten Sauerstoffsättigung des Blutes in der Lunge, auch Blausucht genannt. Doch dabei handelte es sich letztlich nur um ein Symptom – die Ursache war die Fallotsche Tetralogie. Allein der Begriff klang so monströs wie kennzeichnend für die Krankheit: eine vierköpfige Hydra, grausam und gefährlich, tödlich, wenn man sie ignorierte. Sie erforderte eine Operation am offenen Herzen, und deshalb war Lily mit ihrem Baby nach Boston geflogen, in eines der besten Herzzentren des Landes. Und Liam hatte die Kosten übernommen.
»Das kann
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