Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
ich nicht annehmen«, hatte Lily voller Panik gesagt.
»Du musst. Es ist nicht für dich, sondern für Rose.«
Er war überraschend in der Klinik aufgetaucht, kurz bevor Rose für die Operation ruhig gestellt wurde. »Ich muss doch meine Kleine besuchen«, sagte er.
Sie hatte versucht, ihre Fassung zu bewahren. Meine Kleine … genau das hätte Roses Vater eigentlich sagen sollen; die aufgestauten Gefühle, die unter der Oberfläche brodelten, brachen aus ihr heraus. Aufschluchzend war sie aus dem Zimmer gelaufen.
»Was ist los, habe ich etwas Falsches gesagt?« Liam war ihr nachgegangen.
»Du bist nicht ihr Vater. Was geht dich das Ganze an, warum bist du hier?«
»Und ob mich das etwas angeht, Lily. Schließlich habe ich Geburtshilfe geleistet.«
»Wenn ich das nur ungeschehen machen könnte.« Lily stand weinend in einer Ecke des Korridors, während Leute achtlos an ihr vorübereilten – sie befanden sich auf der Kinderkardiologie-Station, und Mütter, die ihre Fassung verloren, waren ein gewohnter Anblick.
»Was möchtest du ungeschehen machen? Dass ich zur Stelle war?«
Lily schluchzte und hatte das Gefühl, in tausend Scherben zu zerspringen. Als die Wehen einsetzten, in der Nacht, als Rose geboren wurde, war ihr Liam wie ein von Gott gesandter Engel erschienen. Sie war mutterseelenallein an der entlegenen Felsenküste des nördlichsten Zipfels von Nova Scotia gestrandet, auf der Flucht vor einem Mann, der ihr nach dem Leben trachtete, dem Vater ihres Kindes. Sie hatte auf dem Küchenfußboden gelegen, völlig erschöpft von den heftigen Wehen hatte sie ihren Schmerz laut herausgeschrien, da sie wusste, dass sie sich in Sicherheit befand – dass niemand sie hören konnte.
Liam hatte den Raum betreten, die Bücher, die er ihr bringen wollte auf den Boden geworfen und war zu ihr geeilt, hatte sich neben sie gekauert – ein Fremder, der in der Stunde ihrer größten Not auftauchte.
»Was glaubst du wohl, warum ich es damals für sicherer hielt, mein Baby allein zur Welt zu bringen, als jemanden um Hilfe zu bitten?«
»Es gab niemanden, dem du vertraut hast«, sagte er.
»Ich kannte niemanden; ich wusste nicht, ob er nach mir sucht, überall Fragen stellt … ich hatte Angst, dass mich jemand verraten würde.«
»Du warst ganz allein, Lily.«
Lily hatte ihm in die Augen geblickt – niemand außer Liam konnte nachempfinden, wie alleine sie sich damals wirklich gefühlt hatte. Er wusste es, aus eigener Erfahrung.
Sie konnte ihm nicht von den Träumen erzählen, in denen er eine Rolle spielte – wunderbare Träume von einem einarmigen Mann, der sich über sie beugte, während Tränen über seine Wangen liefen, der sie hielt und stützte, während sie ihr Kind auf dem Küchenfußboden gebar, der Rose auffing, als sie herauskam, der sie behutsam in seinem gesunden Arm hielt und sie Lily reichte.
Seit Lily ihren Mann verlassen hatte, was erst wenige Wochen her gewesen war, hatte sie von Ungeheuern geträumt. Von furchteinflößenden Ungeheuern, die ihre Gestalt wechselten und sie bei lebendigem Leib auffressen wollten. Sie hatte geglaubt, einen charmanten, gutaussehenden Mann zu heiraten. Er spielte seine Rolle überzeugend, jeder nahm sie ihm ab. Sein Lächeln war perfekt, seine Zähne waren weiß und ebenmäßig. Doch in ihren Träumen hatte er ebendiese Zähne benutzt, um sie wie die Fänge eines Raubtiers in ihr Fleisch zu schlagen, sie auszusaugen, gierig nach ihrem Blut – so wie er sie im wirklichen Leben finanziell ausgesaugt hatte, gierig nach ihrem Geld gewesen war.
Er hatte ihr das Herz gebrochen. Sie dachte an all die Lügen, die er ihr aufgetischt hatte. Wie er ihr das Gefühl vermittelt hatte, an den Problemen in ihrer Ehe trüge ausschließlich sie die Schuld. Sie sei zu anspruchsvoll, zu besitzergreifend, zu misstrauisch. Jedes Mal, wenn sie ihn verdächtigte, sie zu betrügen oder anderswo gewesen zu sein, als er behauptete, hatte er den Spieß umgedreht und sie zum Sündenbock gemacht. Als sie schließlich die Wahrheit herausfand, war ihr Herz ein einziger Scherbenhaufen.
In ihren Träumen war ihr Mann ein Teufel und der von einem Hai verunstaltete Liam ein Engel. Das Leben zeichnete solche Zerrbilder, die einen Menschen verwirren konnten.
An jenem Tag in der Klinik, als Lily in einer Ecke des Ganges ihren Tränen freien Lauf ließ, hatte sie Liams warmen Atem an ihrem Nacken gespürt.
»Wein doch nicht, Lily«, hatte er geflüstert. »Die Ärzte hier sind die besten im
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