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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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sie ist jemand anders, sie sitzt auf der Veranda der Fabrikantenvilla, wo sie Dienstmädchen war, und niemand jagt sie zur Arbeit. Sie süffelt Marillenlikör von den Teetanten und knabbert Kekse, anstatt auf die Frau vom Sozialamt zu warten wie aufs Amen in der Kirche.
    Die Leute in Kamieńsk haben vielleicht keine großen Träume, aber sie erinnern sich oft an ihre große Vergangenheit. Das ist ein Traum, der gegenüber Zukunftsvisionen den Vorzug hat, dass er sich unweigerlich erfüllt. Für den einen ist es der Großvater, der mehr Grundbesitz hatte als andere, bis zum Wald reichte der, und wenn er donnerte, dann gehorchten alle, er brauchte nicht mal zu schlagen. Die kleine Grażynka mochte den Kamieńsker Bahnwärter Barnaba Midziak gern, der über den Großvater sprach, als ob sein an Grundbesitz reicher Vorfahre gleichzeitig zum Anfassen nah und sehr, sehr weit weg war, als führe er bei jeder Erwähnung wieder aufs Neue in einem der Züge davon, die an dem kaum hühnerstallgroßen Bahnwärterhäuschen vorbeirauschten. Dort blieb sie auf dem Heimweg von der Schule immer stehen, und Barnaba Midziak winkte ihr von der Bank aus zu, wo er in seinen freien Minuten selbstgedrehte Zigaretten rauchte, und dort saßen sie dann ein Weilchen zusammen und schauten auf die Gleise. Mein Großvater, erzählte der Bahnwärter Grażynka, mein Großvater hatte so viel Land, wenn er morgens mit dem Pflug in eine Richtung losfuhr, kam er erst am Nachmittag zurück, und mein Bruder und ich standen da und guckten immerzu in Richtung Kleszczowa und warteten, dass er wieder auftauchte, und wir wetteten im Spiel, wer ihn zuerst sehen würde. Und wie er donnerte, weil es nicht nach seinem Geschmack war! Wie er donnerte, dass uns die Ohren davon dröhnten! Wie ein Uhrwerk haben wir alle gearbeitet, er musste nicht mal schlagen.
    Für diejenigen, denen es im Unterschied zu Barnaba Midziak nicht vergönnt war, in Kamieńsk zu sterben, entspringt immer noch an diesem Ort die Quelle aller Geschichte. Für Antoni Mopsiński, vor dem Krieg in Kamieńsk der Fabrikant genannt, sprudelt hier die Geschichte, schäumend wie der Silvestersekt im Club Weißer Adler in Greenpoint. Sie sprudelt und sprudelt mit unveränderter Kraft, obwohl schon so viele Jahre vergangen sind, seit der Fabrikant Kamieńsk verlassen hat. Meine verehrte Urgroßmutter, sagte Antoni Mopsiński früher, und die kleine Grażynka blickte bewundernd auf die schimmernden Knöpfe seines Überrocks; meine Urgroßmutter aus dem Städtchen Kamieńsk, sagt Antoni Mopsiński immer noch, nach all den Jahren, und seine eigenen amerikanischen Enkel Lily Rose und Violet Rose kneifen einander in schweigendem Einvernehmen unterm Tisch. Er kann sie mal, dieser polnische Opa, was geht sie die Urgroßmutter aus Kamieńsk an, die Urururgroßmutter, oder noch älter, die Ururururgroßmutter, aus dem Zeitalter der Ururdinosaurier. Die Mädchen holen tief Luft und probieren aus, wie oft sie in einem Atemzug Ur- sagen können. So eine Urgroßmutter, die gehört allenfalls in ein Museum, aber nicht in ihr three-bedroom semi. Außerdem haben sie wirklich keine Lust mehr, polnisch zu sprechen, das ist ihnen zu überhaupt nichts nütze, dieser kaum auszusprechende Nachname reicht ihnen schon. Mopsinsky, und obendrein hat ihr Vater, Napoleon Mopsinsky, eine Halbinderin geheiratet, so dass Opa Mopsińskis Enkelinnen ein bisschen polnisch, ein bisschen amerikanisch und ein bisschen halbindisch sind, von dem, was dazwischen noch mitgemischt hat, mal ganz zu schweigen. Meine verehrte Urgroßmutter aus Kamieńsk hat mir im Testament den Nachttopf von Napoleon vermacht, fährt Opa Mopsiński unbekümmert fort, und Lily Rose und Violet Rose krallen ihre Fingernägel so fest in die Hände, dass sie Abdrücke hinterlassen, gleich werden sie sich in die Hose machen vor unterdrücktem Gelächter, das ihnen in die jugendlichen Harnblasen fährt und diese zum Platzen zu bringen droht. Der Nachttopf von Napoleon! Er kann sie mal, dieser Opa. Der Nachttopf und die Ururururgroßmutter. Ihr Vater hat ihnen gesagt, sie müssten mit dem Opa ein wenig Zeit verbringen, bald würde es den Opa nicht mehr geben und er würde in den Himmel kommen, aber die Mädchen können den Geruch des alten Mannes schwer ertragen, und hinterher tauschen sie sich kichernd darüber aus, dass es bei Opa nach Wollsocken stinkt, die auf der Heizung trocknen, und nach dem verdreckten Geschirrschwamm, und nach der kunstledernen Einkaufstasche mit

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