Wolkenfern (German Edition)
knielangen Baumwollunterhosen ins Meer, wie es bereits ihre Mütter und Großmütter taten. Sie stehen nah beieinander und plaudern, tratschen, stiften Ehen, ihre Hände bewegen sich knapp unter der Wasseroberfläche wie Fische, ihr Lachen tönt weithin, hallt von der Küste der unbewohnten Insel Saria wider, auf der es nur Bienen und Seehunde gibt und wo sich gelegentlich Sirenen ausruhen, wie der alte Kapitän Manolis erzählt, wenn er zu viel Wein getrunken hat. Die badenden Frauen im Meer reden über ihre Töchter, denn hier, in diesen beiden von der Welt abgeschnittenen Dörfern, dem Hafendorf Diafani und dem hoch oben an den Bergpass gekrallten Olympos, herrscht das Matriarchat, und die Töchter erben von ihren Müttern. So ein schönes Haus, seufzen Männer im Kafenion, so ein schönes Haus direkt am Meer hat meine ältere Schwester geerbt. Die Karpatherinnen sind klein und dunkelhaarig, kräftig gebaut, haben zusammengewachsene dicke Augenbrauen und einen Damenbart wie Frida Kahlo; sie können Lasten auf dem Kopf tragen wie die Frauen aus Afrika, wohin es von hier aus näher ist als nach Europa, die Männer gehen ihnen bei den schwereren Arbeiten nicht zur Hand. Die Frauen im Meer unterhalten sich in einer Sprache, die so alt ist wie die Welt. Sprachwissenschaftler aus Athen und Saloniki wollen darin einen dorischen Dialekt erkannt haben, der sich so wunderbar erhalten haben soll wie der süßeste Honig in einem Tonkrug von der Insel Saria, wo in byzantinischen Zeiten im ganzen Mittelmeerraum berühmte Keramikwaren hergestellt wurden. Doch wen kümmern hier die Sprachwissenschaftler; Foula erzählt gerade, dass ihre Enkelin Popi gern im Stehen pinkelt wie ein Junge, und die anderen Frauen lachen, ihr Lachen breitet sich über das sonnenlichtgoldene Wasser, in dem sich die Wolken spiegeln, der Horizont ist strahlend blau und klar; da ist sie nicht die Erste, deine Popi. Und das war nicht das Einzige, was wir konnten, als wir jung waren!
In wenigen Tagen findet das Fest Johannes des Täufers statt, eines der wichtigsten Panigiri im Jahr, das ganze Dorf zieht dann mit bepackten Eseln durch die Berge bis zur Felsenkirche auf der Landzunge bei Vroukounda. Die Frauen kleiden sich in traditionelle Gewänder, blumengemusterte Kopftücher mit Glöckchen, bestickte Mieder, weite Röcke, Schuhe, unten rot und mit Schäften in der Farbe gerösteter Brotrinde; der Pope weiht mühlradgroße Brote, ein paar Zicklein und Lämmer brutzeln am Rost, die Musiker stimmen ihre Instrumente, nach Mitternacht beginnt der Tanz und dauert bis zum Mittag des nächsten Tages. Die älteren Frauen helfen parfümierten jungen Männern, sich herauszuputzen und zu frisieren; sie kommen im Sommer aus allen möglichen Gegenden der Welt nach Karpathos, um die ihnen aus der Ferne versprochenen jungen Mädchen zu treffen. Manche nehmen ihre Ehefrauen von hier mit nach London, New York, Florida, Kanada; die Kinder dieser kaum je grundlos lächelnden, genügsamen und starken Frauen saugen mit der Muttermilch die Sehnsucht nach der Sonne auf, die nirgends so scheint wie hier, und nach einem Meer, das nirgends so ist wie hier. Es ist eine Schönheit, die Freude und Wehmut zugleich weckt, und wenn über der Landzunge bei Vroukounda die Sonne aufgeht, beginnen die singenden Männer einer nach dem anderen zu weinen, und die um den Tisch tanzenden Karpatherinnen schluchzen. In den windigen Wintermonaten wird es allerhand zu reden geben, besonders als der einer Tochter von Foulas Cousine versprochene Sohn von Cousin Wasilis, Adonis, nicht mit ihr weggeht, sondern mit einem Touristen, einem ausländischen Konditor. Dem Festumzug schließen sich meistens auch ein paar Touristen an, sie werden zu Tisch gebeten, mit Essen und Trinken versorgt, ansonsten schenkt ihnen niemand Beachtung, denn der bloße Gedanke, für Touristen zu tanzen und zu singen, käme auf der Landzunge bei Vroukounda jedem albern und ungehörig vor.
Die Frauen im Meer reden über die Fremden, die dieses Jahr nach Diafani gekommen sind, sie lästern über die wenigen Unverbesserlichen, die sich von allen Orten auf der Welt ausgerechnet dieses abgelegene Dorf ausgesucht haben, wo es keine einzige Touristenattraktion gibt. Manche davon kommen schon seit zwanzig Jahren her, Starrköpfe, obwohl hier seit Anbeginn der Welt noch nie einem Fremden ein Haus verkauft worden ist und auch niemand vorhat, das zu tun – was nicht geht, das geht nicht. Eine Schriftstellerin aus Polen fragt jedes Jahr
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