Wolkenfern (German Edition)
Zeit zurückzufahren, zu ihrer Mutter und ihrer Oma Halina-Kolomotive auf Piaskowa Góra. Seit mehreren Jahren breitet sich diese Sehnsucht in ihr aus wie Rhizome und kreist in ihrer Blutbahn. Auch wenn Pani Malec, Pani Stenia und Pani Hania es nicht mitbekommen – Dominika schickt auch Päckchen nach Polen, unbeholfen packt sie Stücke von Amerika wie ein Puzzle für ihre Mutter zusammen, aus der diese allerdings nichts legen kann, was die geringste Ähnlichkeit mit dem New York ihrer Tochter hat. Sie macht Fotos und sucht die besten für ihre Mutter aus, aber Jadzia interessiert sich nur für die paar Bilder, auf denen Dominika zu sehen ist, dann kann sie mit klopfendem Herzen abschätzen, ob ihre Tochter im Gesicht ein wenig runder geworden ist oder ob sie wieder abgenommen hat, ob sie warm angezogen ist und sich die Haare wieder wachsen lässt. Ohne Mütze!, ruft sie besorgt aus, als sie ein Foto ihrer Tochter vor der Freiheitsstatue sieht, und das Symbol Amerikas interessiert sie nicht besonders, da sie doch gerade erst im »Häuslichen Ratgeber« gelesen hat, dass der Körper dreißig Prozent seiner Wärme über den Kopf verliert. Auf den Fotos von der Eislaufbahn im Central Park, wo Dominika eine der schnellsten Eisläuferinnen ist, sieht Jadzia vor allem die Gefahr, die die wuselnde Menge für ihre Tochter darstellt, am Ende wird sie noch jemand umwerfen, dann fällt so ein Hallodri auf sie drauf, oder die scharfe Kante eines Schlittschuhs schneidet ihr den Kopf ab. Der Passagierdampfer auf dem Hudson River, den Dominika fotografiert hat, jagt Jadzia mit seiner Größe einen Schrecken ein, mein Gott, da kann man ja von Deck fallen und untergehen, und kein Mensch merkt, dass ihre Tochter mutterseelenallein in diesem riesigen Wasser liegt, hoffentlich hat ihr Kind nicht vor, mit dem Ozeandampfer zu verreisen. Dafür gefällt Jadzia das Haus, in dem Dominika wohnt, die Nähe der Kirche beruhigt sie, und die weiß-rote Flagge am Mast auch, gut, dass sie da ihre Landsleute in der Fremde um sich hat, das gibt doch ein Gefühl von Sicherheit, und so kann sie ja auch mal mit jemandem quatschen. Sie zeigt ihrer Nachbarin Krysia Śledź das Fenster von Dominikas Zimmer und übertreibt wie üblich, indem sie ihr das Fenster daneben auch zuschlägt, um einen zweifenstrigen Beweis dafür liefern zu können, wie weit es ihre Tochter dort auf der anderen Seite des Ozeans gebracht hat. Zwei Zimmer hat sie, zwei Fenster nach Süden, mit Blick auf die weiß-rote Fahne, so ein Glückspilz.
Gibt es in der Gegend nicht auch alle möglichen komischen Nationalitäten?, fragt sie ihre Tochter. Denn auf den Fotos, die sie schickt, heilige Muttergottes, da sieht man ja hier einen Chinesen, da einen Japaner und dort einen Mischling. Denk bloß immer dran, das Fenster zuzumachen!, ermahnt sie sie in ihren Briefen und am Telefon. Alles was Dominika tut, macht Jadzia große Sorgen, und manchmal weiß sie nicht, was sie den Leuten sagen soll, die fragen, was ihre Tochter denn da auf der anderen Seite vom großen Teich so treibt. Als Dominika ihr in ihrem zweiten New Yorker Sommer ein Foto von sich auf dem Festival der Kulturen schickt, wo sie als Zigeunerin verkleidet in einem Pseudo-Zigeunerlager gearbeitet hat, traf Jadzia fast der Schlag. Zigeuner – das hat ihr noch gefehlt! Ihre Tochter im bodenlangen Blumenrock, mit bunten Ketten, Zigeunerohrringen und einer Handvoll Karten. Aber Mama, erklärte Dominika, das ist doch eine Art Kirmes, so ein Ethno-Festival, der eine Zigeuner war Anwalt, zwei andere waren Studentinnen, mich haben sie genommen, weil ich einen komischen Akzent und dunkle Haare habe, doch Jadzia ließ sich nicht so recht überzeugen. Sie weiß, wie ein Zigeuner aussieht, und wie eine Zigeunerin aussieht, weiß sie auch, hat sie sie etwa nicht in Zalesie gesehen, und am Bahnhof in Breslau, und in Wałbrzych auf der Poststraße? Klar, ihr Kind ist ja so eine Spinnert-Spleenige, aber das fehlte noch, dass sie mit den Zigeunern durchbrennt, und dann könnte man sie suchen wie eine Nadel im Heuhaufen da in diesem Amerika. Sie rät ihrer Tochter, die von der Kirche veranstalteten Tanzparties zu besuchen, geh nur, Kind, sagt sie, geh unter Leute, vielleicht lernst du da jemanden kennen, anstatt dich mit den Zigeunern herumzutreiben!
Manche jedoch lernen sie kennen, die Liebe, und eine Auswirkung der Faschingsfeiern sind die Junihochzeiten, dann läuten die Glocken der Kirche, dass sogar die Obdachlosen vom Tompkins Square
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