Wolkenfern (German Edition)
wohnt, wird ihr Heimweh nicht weniger, ganz im Gegenteil, je länger sie fern von der Heimat lebt, desto mehr sehnt sie sich danach und desto stärker sind ihre Erinnerungen. Ihre Erinnerung nährt sich von Büchern, und sie braucht nur eines aufzuschlagen, das sie seinerzeit in Krakau gelesen hat, und schon ist jeder Satz und jedes Wort wie eine Tür, durch die Eulalia Barrons verlorenes Leben wieder in sie zurückströmt. Als Eulalia Barrons Augen immer schlechter wurden, brauchte sie jemanden, der ihr auf Polnisch vorlas, und sie setzte eine Anzeige in die Village Voice : Suche Polin, die mir Bücher vorliest. Zeitliche Flexibilität, gute Diktion und Liebe zu Büchern erforderlich.
Eine sehr kleine ältere Dame mit Gehstock öffnete Dominika die Tür und bat sie, ihr probehalber ein Stück aus der Odyssee vorzulesen. Setz dich dort hin, mein Mädchen, dort, unter den Farn, bat sie, Zwölfter Gesang, Vers neununddreißig. Dominika schlug das Buch an der bezeichneten Stelle auf: »Zuerst wirst du zu den Sirenen kommen, die alle Männer betören, die es dorthin verschlägt. Jeder, der sich ihnen unwissend nähert und ihren Stimmen lauscht, er wird nie sehen, wie sich seine Frau und kleinen Kinder seiner Heimkehr freuen, denn so werden ihn die Sirenen mit ihrem süßtönenden Gesang betören«, las Dominika. Gut. Die Greisin lächelte. Lies mir weiter von den Sirenen vor, mein Mädchen.
Eulalia Barron lebt in einem Haus namens Mimosa. Jedes Mal, wenn Dominika morgens dort ankommt, wirken die dämmrigen Zimmer voller Bücher anders, als spiegelten ihr Aussehen und die räumliche Wirkung den Seelenzustand der Besitzerin, die auf ihren Stock gestützt durch die Räume wanderte. Frau Eulalia spricht von Büchern so wie andere von Tieren, wo hat es sich nun bloß wieder verkrochen?, klagt sie nachsichtig. Wenn es sich einmal verkrochen hat, dann haben wir den Kummer, man sucht und sucht und ruft, schimpft, bettelt, es meldet sich nicht, es antwortet nicht. Eulalia Barron will nur noch Polnisch sprechen und verliert nie den Appetit auf Bücher in dieser Sprache, obwohl ihr die Lust auf alles andere abhandengekommen ist, jede Mahlzeit ermüdet sie, den Fernseher schaltet sie gar nicht mehr an. Ihr Geist sinkt tiefer und tiefer ins Dunkel. Im ersten Jahr von Dominikas Anstellung lebte sie noch allein, jetzt ist eine Pflegerin da, die sich täglich um die alte Frau kümmert und dafür sorgt, dass sie isst. Seit einiger Zeit verwechselt Eulalia Barron Dominika mit anderen, mal mit einem Mann namens Icek, mal mit einem Mädchen namens Władzia, doch sie haben sich beide an diese Verwechslungen gewöhnt, und wenn nötig antwortet Dominika auch, wenn sie als Icek oder Władzia angesprochen wird, ja, ich bin’s, Frau Eulalia, guten Tag. Jeder, dem Dominika seit dem Erwachen aus dem Koma begegnet ist, behauptet, sie erinnere ihn an einen Menschen, den der Betreffende verloren hatte, das mochten Großeltern sein, erwachsene Menschen beiderlei Geschlechts, aber auch Kinder, die als Säuglinge gestorben waren, und sogar geliebte Haustiere, so als vereine Dominika Chmura als Person alle möglichen Ähnlichkeiten und wecke Sehnsucht nach dem, was verloren war. Nicht nur Eulalia Barron aus New York, auch Sara, die sich seit ihrer Abreise aus München mütterlich um Dominika gekümmert hat, kann sich diesem Zauber ihrer Reisegefährtin nicht entziehen. Manchmal erinnert die Freundin sie an Shaunika, die mädchenhafte, schlanke Mutter auf dem Foto in der Küche in Bed-Stuy, die Mutter, der Sara an Kraft und Alter längst überlegen ist. Je länger sie Dominika kennt, desto sicherer ist sie, dass sie noch nie einem Menschen begegnet ist, der ihrer Mutter so ähnlich sah, auch wenn sie sie nie lebendig gesehen hatte. Eulalia Barron sieht in Dominika jemanden, der ihr vorlas, als sie ein kleines Mädchen war, an einem ganz anderen Ort und in einer ganz anderen Zeit, einem wunderschönen Ort und einer verlorenen Zeit, deshalb ruft Eulalia Barron Władzia!, wenn Dominika in ihre New Yorker Wohnung kommt, und deshalb wirkt sie dann ein paar Augenblicke lang wieder jung, und ihre Augen strahlen. Lies, mein Mädchen, sagt sie, lies mir heute was von den Sirenen vor. »Zuerst wirst du zu den Sirenen kommen, die alle Männer betören«, liest Dominika, oder, besser gesagt, sie rezitiert aus dem Gedächtnis, denn plötzlich ist ihr bewusst geworden, dass diese Geschichte von einer Wanderschaft, die Frau Eulalia Barron so gerne hört, auch schon zu
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