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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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philosophisch ausfallen, und ich hoffte, dass sie deswegen jetzt nicht abblocken würde. Aber eigentlich schätzte ich sie nicht so ein. Also wagte ich einen Vorstoß: „Was ist eigentlich das Ziel im Leben? – Was ist dein Ziel im Leben, Mama?“
    Ich hatte noch nie so mit meiner Mutter geredet, noch nie so tiefsinnige Sachen mit ihr besprochen, und ganz gewiss nicht am Abendbrottisch. Irgendwie schien Christoph unsere kleine Familie in jeder Hinsicht auf den Kopf zu stellen.
    Sie starrte eine Weile vor sich hin, als zählte sie die Krümel auf ihrem Teller. Dann schaute sie zu mir auf, nachdenklich, verträumt. Schließlich antwortete sie leise: „Glücklich zu sein. Ist es das nicht, was jeder möchte? Glücklich und zufrieden sein. Die Frage ist nur, was ist das Glück jedes einzelnen? Jeder ist seines Glückes Schmied. Hmm. Wirklich? Und gibt es wirklich das eine Glück im Leben? Oder wandelt es sich, ist in jeder Lebensphase anders?
    Als Mädchen dachte ich immer, ich bin glücklich, solange ich jung bin, egal, was passiert. Aber die Unbeschwertheit der Jugend vergeht, und bei mir war sie vorbei, als meine Schwester schwanger war, und die ganzen Probleme auftraten.“ Ihr Blick ruhte für einen Moment auf Christoph, nicht anklagend oder vorwurfsvoll, sondern voller Liebe und Zuneigung. „Deine Mutter hatte es ganz schön schwer mit so einem kleinen Racker wie dir. Und dein Vater war ja meistens nicht da. Diese Erfahrung änderte meinen Inbegriff vom Glück. Während ich deiner Mutter beistand, so gut es mit dem Studium nebenher ging, schwor ich mir, dass es mein Glück sein sollte, eine vollständige Familie zu haben, einen Mann, der für mich und die Kinder da ist, der uns emotional und finanziell stützt, ohne dass ich meine eigene Freiheit ganz aufgeben müsste. Dann, so dachte ich, würde alles gut laufen, und es würde keine Sorgen geben.“
    Sie trank einen Schluck Tee. Um Zeit zu gewinnen, nachzudenken, das Gesagte zu resümieren. Wir hatten die Geister ihrer Vergangenheit heraufbeschworen, unbeab-sichtigt, unvorbereitet, ohne die geringste Ahnung, was sie in ihr aufrütteln würden. Sie hatte Angst, das sah ich ihr an. Angst vor dem Resümee, Angst vor ihrem eigenen Urteil über sich selbst. Auch Angst vor meinem? Konnte ich überhaupt über meine Mutter urteilen? Bis jetzt saß ich nur auf der Zuhörerbank, tauchte in ihre Erinnerungen ein, wühlte in einem Schatzkästchen, das sie seit siebzehn Jahren fest vor mir verschlossen gehalten hatte.
    Schließlich fuhr sie fort: „Ich lernte Frank kennen und war mit ihm glücklich wie nie zuvor. Wir heirateten, dann kamst du, und mein Glück schien perfekt zu sein. Ich hatte eine vollständige Familie, und auch finanziell geht es uns mittlerweile nicht schlecht. Dein Vater hat hart dafür gearbeitet.
    Aber irgendwann lief es nicht mehr gut, jedenfalls nicht wirklich. Und es wurde immer schlimmer, je älter du wurdest. Ich habe die Augen davor zugemacht, habe deine Schwierigkeiten mit Papa ignoriert, auch deine Schwierigkeiten in der Schule. Von deinen ...“ – sie zögerte wie vor einem Hindernis, das sie überwinden musste und auch wollte, aber trotzdem scheute: „ ... Problemen mit den Mädchen ganz zu schweigen. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass bei uns etwas anders lief, als der Plan es vorsah. Dass wir aus den gewohnten Bahnen ausbrachen. Ich hatte Angst davor, auch wenn ich mich meistens vor dich stellte, wenn die Situationen mit Papa zu eskalieren drohten. Ich wollte um jeden Preis die schlimmsten Konfrontationen verhindern, wollte den Schein der heilen Familie solange wie möglich aufrecht erhalten.“ Sie schniefte und strich sich mit der Hand über die Augen.
    Christoph hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und sie die ganze Zeit über aufmerksam beobachtet. Jetzt warf er mir einen Blick zu und zog eine Augenbraue hoch, fragend, erstaunt: ‚Da tun sich ja Abgründe auf! Hast du davon irgendeine Ahnung gehabt?’ Ich schüttelte fast unmerklich den Kopf und presste die Lippen zum Strich: ‚Nein! Sag jetzt nichts!’ Er nickte kurz und schaute wieder zu Mama hinüber. Wir verstanden uns tatsächlich ohne Worte! Mama schien sich wieder gefasst zu haben:
    „Na ja, nun ist die Bombe trotzdem geplatzt. Es hat mir heute fast das Herz zerrissen, als ich euch beide so erbittert streiten hörte. Auf der einen Seite mein Mann, mein Partner, den ich liebe und dem ich vertraue; auf der anderen Seite mein Kind, das ich auch liebe und
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