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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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beschützen will, immer, gegen jeden und alles. Ich wusste nicht, wer Recht hatte und auf welche Seite ich mich stellen sollte. Ich hatte Angst, einen von euch beiden zu verlieren, wenn ich mich entscheiden müsste. Mein Traum vom Glück, wie ich ihn zwanzig Jahre lang geträumt habe, scheint heute Mittag jedenfalls endgültig gestorben zu sein.“ Sie verstummte. Mist! Und jetzt? Sie atmete tief durch. Ich auch. Christoph auch. Es war, als hakten wir alle gemeinsam Mamas Traum vom Glück ab, ließen ihn aus unseren Lungen entweichen und in die Dämmerung des Sommerabends hinausfliegen.
    Doch dann glomm ein Leuchten in Mamas bisher ziemlich traurigen Augen auf. Ich war erstaunt über diesen Wandel, wagte jedoch nicht, mich zu rühren. Mit lebhafterer Stimme fuhr sie fort:
    „Aber weißt du was, Jann? Es war ein falscher Traum! Das falsche Glück, das ich mir erträumte. Es gibt nicht das absolute Recht, die absolute Wahrheit, und auch nicht das absolute Glück. Das ist mir heute Nachmittag klar geworden. Es gibt nicht das Glück fürs Leben, nur das für den Augenblick. Das Leben besteht aus unzähligen Augenblicken, und die Kunst liegt wohl darin, in jedem einzelnen von ihnen sein Glück zu finden. Es ist also immer eine Frage der persönlichen Situation, des persönlichen Standpunktes.
    Was dich betrifft, so bin ich nicht dein Moralapostel, und auch nicht dein  Bodyguard, sondern deine Mutter, von Anfang an und bis zum Ende. Und von diesem Standpunkt aus betrachtet ist es für mich wirklich, wirklich und absolut wichtig, dass du glücklich bist. Es geht nicht darum, was ich mir für dich vorstelle, sondern einzig und allein darum, was du für dich als dein Glück definierst. Egal, was du tust, und mit wem du es tust. Ich werde es lernen, ich will es lernen und mich daran gewöhnen, solange du damit glücklich bist. Du bist mein Kind, ich lebe in dir, und wie es dir geht, so geht es mir auch. Das war schon so, als ich dich in meinem Bauch spazieren getragen habe, und das wird immer so sein, solange ich dich sehen kann.“
    Sie lächelte mich tapfer an, auch ein bisschen verlegen, aber unglaublich liebevoll.
    Ich war wie vom Donner gerührt. Diese Offenbarungen hatte ich nicht erwartet! Meine Mutter hatte soeben ihr Innerstes nach außen gekehrt, hatte ihre Seele vor mir ausgebreitet, und nun hielt ich sie in den Händen, nackt, verletzlich, unendlich kostbar.
    Einem inneren Impuls folgend stand ich auf, ging um den Tisch herum und legte meine Arme um ihre Schultern: „Danke, Mama.“ Mehr schaffte ich im Moment nicht. Aber mehr brauchte sie auch nicht. Sie drückte mich an sich, hielt sich für einige Sekunden an mir fest und flüsterte: „Ich hab dich lieb, mein Kleiner.“ Dabei streichelte sie mir zärtlich über den Rücken. Über ihre Schultern hinweg sah ich Christoph an, der mir aufmunternd zuzwinkerte. Seine Augen schimmerten merkwürdig. Ich wünschte mir, dieser intime Augenblick mit meiner Mutter würde ewig andauern.
    Aber schließlich stupste sie mich wieder von sich. „Los, du Halbstarker, iss dein Brot auf, damit du irgendwann mal ganz stark wirst.“ Damit boxte sie mir in die Seite, und ich wand mich theatralisch. Das war unser altes Spiel, seit ich laufen konnte und immer vorzeitig vom Tisch aufgestanden war, weil ich keine Lust mehr hatte zu essen. Sie schob ihren Stuhl zurück und ging nach nebenan in die Speisekammer.
    Christoph schmunzelte mir zu: „Schön! Das tat richtig gut! – Aber mal ganz im Vertrauen: ich finde, in bestimmten Situationen bist du schon ganz schön stark.“ Ich griff scheinbar ungerührt nach meinem Brot und erwiderte sein kokettes Grinsen mit unschuldiger Miene: „Ach ja?! Wer war denn heute der Racker von uns beiden?“ Er lachte verhalten auf. Bei ihm konnte ich wunderbar schlagfertig sein.
    Bei meinem Vater leider nicht.
    Oh Gott, gleich ging es los!
    Ich trank meinen Tee aus und stellte mit konzentriertem Blick die Tasse ab. Christoph spürte meinen Stimmungsum-schwung sofort: „Willst du es jetzt tun?“
    Ich nickte und ging zum Kühlschrank. Mutter kam mit ein paar Tomaten in den Händen zurück. „Warte, Jann, es gibt noch Tomaten. – Wo kommt denn das Bier her?“
    Ich hatte die Flasche Bier aus dem Kühlschrank genommen, die wir am Nachmittag auf Felix’ Empfehlung hin in besagtem Spezialladen gekauft hatten. Es war das Lieblingsbier seines Vaters. Hoffentlich würde es auch das meines Vaters werden. „Das Bier ist für Papa“, antwortete ich,
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