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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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Ich schnappte nach Luft und sah mich rasch um. Doch die Leute um uns herum schienen von dieser anzüglichen Geste keinerlei Notiz genommen zu haben. Jetzt wandte ich ihm mein Gesicht vollständig zu und erwiderte empört:
    „Reiß dich zusammen und lass die Finger von anderer Jungen Pos und sonstigem, oder ich ...“ Seine Augen blitzten auf, dunkel und verführerisch. Ich hätte seine Hand jetzt gerne noch woanders gespürt.
    „Du siehst so süß aus, wenn du wütend bist!“, flüsterte er und presste seine Lippen auf meine. Mitten auf dem Kohlmarkt standen wir da und küssten uns, während um uns her die Tauben aufflogen.

 
    IV
    Als wir zu Hause ankamen, deckte meine Mutter gerade den Abendbrottisch. Nur für drei Personen, wie mir sofort auffiel. Vaters Platz blieb leer. Wahrscheinlich hatte er sich schon den ganzen Nachmittag über im Arbeitszimmer hinter seinem PC verschanzt. Keine gute Ausgangslage für meinen Plan, aber nicht zu ändern. Unser beider nervliche Anspannung war bereits im Auto gestiegen; hier im Haus wurde sie fast zum Greifen plastisch. Christoph ging sich duschen, dann ich, ohne dass wir uns auch nur mit den Fingerspitzen berührten. Und das wollte bei uns schon etwas heißen!
    Beim Abendbrot unterhielten wir uns in gedämpftem Ton, ich erzählte Mutter von Felix’ neuer Flamme. Als ich erwähnte, dass sie acht Jahre älter sei als er, seufzte sie sorgenvoll: „Na, das wird seiner Mutter aber gar nicht gefallen ...“
    In mir stieg sofort wieder die Wut hoch. Wieso verdammt noch mal musste es im Leben immer nach ‚Schema F‘ ablaufen??! Wieso sah die perfekte Schwiegertochter immer aus wie ein aufgestyltes Kätzchen: freundlich lächelnd, weiße Zähne, langes Haar, lieb und nett und angepasst. Ach ja, kleiner als der Mann muss sie auch noch sein, sogar mit Stöckelschuhen, und mindestens ein halbes Jahr jünger sowieso, und bitte nicht zuviel Grips im Kopf haben, denn Intelligenz wäre zu anstrengend für ihn! Man(n) hatte sich zu verlieben, zu verloben und zu verheiraten, dann bitte schön ein, zwei Kinder, und danach ...
    Plötzlich spürte ich Christophs Hand auf meiner: „Ruhig, Süßer, schreien bringt gar nichts.“ Waren meine Gedanken schon wieder haltlos aus mir herausgesprudelt? Ein Blick in das abwehrende Gesicht meiner Mutter bestätigte mir meine Befürchtung. Ich murmelte eine Entschuldigung. Mutter seufzte noch einmal und begann, sich ihr Brot mit Butter zu bestreichen. Sie hielt dabei das Messer verkehrt herum, so dass sie mit der Klinge immer wieder im weichen Brot hängen blieb, aber sie kämpfte verbissen weiter. Schließlich griff Christoph herüber und drehte das Messer in ihrer Hand um. Jetzt ging es leichter. Sie sah kurz dankbar in seine Augen, und wie mir schien ihr das silberne Funkeln darin Mut zum Weiterreden zu geben:
    „Ach, Jann, das ist alles gar nicht so einfach. Mit dem Grips übertreibst du zwar ein bisschen, aber im Grund ist es schon so, wie du sagst. Regelmäßigkeit, dieses ‚Schema F’, bedeutet Sicherheit. Die alten Normen und Werte, die sich über die Generationen bewährt haben, vermitteln innere Stärke. Um sich dem entgegenzustellen bedarf es Kraft und Courage, und natürlich die Bereitschaft, mit den Konsequenzen zu leben, auch wenn die dann vielleicht nicht so rosig aussehen.“
    Sie blickte auf ihr Brot hinunter, das von ihrem Kampf gegen den Strich ziemlich zerfetzt war. Sie nahm ein paar Brösel auf und schob sie vorsichtig zwischen ihre Lippen. Ein zerbröseltes Brot stilvoll zu essen war wesentlich komplizierter und langwieriger, als wenn man die Scheibe heil und unversehrt vor sich liegen hatte und nur kleine Stückchen davon abzuschneiden und mit der Gabel aufzunehmen brauchte. Sah sie das Gleichnis jetzt auch vor sich? Sie sprach weiter: „Wenn etwas von dem Althergebrachten, dem Gewohnten abweicht, bedeutet das Unruhe, Orientierungs-losigkeit, Ratlosigkeit. Das macht im schlimmsten Fall Angst. Und deshalb will man das nicht.“
    ‚Du meinst, das willst du nicht.’ Trotzdem nickte ich. Aber dann hakte ich nach: „Aber wenn es manchmal nicht anders geht, wenn man einfach nicht in den vorgefahrenen Bahnen bleiben kann? Wenn es dann für einen selbst nicht mehr weitergeht? Sollte man dann nicht akzeptieren, dass es auch neue Wege geben muss? ... Die auch zum Ziel führen, nur eben woanders lang?“ Ein Gedanke keimte in mir auf, eine Idee, wie ich meine Mutter aus der Reserve locken könnte. Meine nächste Frage würde sehr
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