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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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„Gibst du mir bitte mal ein Bierglas?“
    Sie drehte sich wortlos um, legte die Tomaten ab und griff in die Vitrine. Aber als sie noch einmal über die Schulter sah und das Etikett auf der Flasche erkannte, stellte sie den plumpen Bierhumpen zurück und nahm stattdessen eine feine Biertulpe heraus, die mein Vater eigentlich nur für besondere Anlässe benutzte. Offensichtlich hatte sie mich ohne viele Worte sehr genau verstanden. Dafür liebte ich sie.
    Sie polierte das Glas noch einmal, dann nahm ich es und wandte mich zur Tür. Plötzlich hörte ich Christophs Stimme: „Einen Augenblick noch, Süßer!“
    Ich drehte mich um. Er stand auf und kam um den Tisch herum auf mich zu. Ganz leicht und zärtlich küsste er mich, genau auf den Mund. Mehr ein Hauch, aber trotzdem so intensiv wie ein Zungenkuss. Ich hörte meine Mutter hinter mir leise nach Luft schnappen. Das war auch etwas, woran sie sich würde gewöhnen müssen. Christoph stupste mich mit seinen Lippen vorwärts, flüsterte: „Jetzt, los!“ Mit dieser Anfeuerung ging ich hinaus auf den Flur. Die nächste Stunde würde entscheidend sein.

 
    V
    Mit klopfendem Herzen betrat ich das Arbeitszimmer meines Vaters. Dieser Raum war der einzige in unserem Haus, den ich nicht mochte und deshalb auch selten betrat. Als kleines Kind war er mir verboten gewesen, weil mein Vater dort oft seinen Arbeitskoffer mit den für mich gefährlichen Medikamenten stehen hatte. Das Gefühl der Gefahr und des Verbots hatte sich über die Jahre hinweg tief in mir eingebrannt, so dass ich auch als Jugendlicher nur höchst ungern hierher kam.
    Im Raum herrschte ein diffuses Zwielicht. Draußen ging langsam die Sonne unter, sandte mit ihren Strahlen einen letzten Gruß in den dunkel möblierten Raum. Hier drinnen brannte bereits die kleine Schreibtischlampe.
    Mein Vater saß am Schreibtisch, das fahle Licht des Monitors spiegelte sich in seinen Brillengläsern. Zum Arbeiten trug er stets eine Brille. Ich fand, dass er dahinter immer seine Augen versteckte. Die Augen sind der Spiegel zur Seele. Hatte Christoph gesagt. Ich hatte sie schon als Baby nicht gemocht und geweint, wenn mein Vater die Brille trug. Hatte meine Mutter mir einmal erzählt. Weil er mir damit quasi auch seine Seele vorenthielt? Aber das wusste ich ja damals noch nicht.
    Ich zog die Tür hinter mir zu. Als er das leise Klicken hörte, schaute er auf und nahm die Brille ab. Jetzt sah er schon nicht mehr ganz so nach Geschäftsmann aus. Langsam ging ich zu ihm hinüber, das Bierglas in der einen, die Flasche in der anderen Hand. Er ließ mich herankommen, beobachtete mich schweigend. Normalerweise blockte er mich immer schon an der Tür ab, wenn er viel zu tun hatte. Als ich direkt vor dem Schreibtisch stand, fragte er leise: „Was willst du?“
    Mein Herz schlug noch lauter. Ich konnte den Ton seiner Stimme nicht einschätzen, weil er zu leise gesprochen hatte. Oder hatte ich nicht richtig hingehört? Christoph, hilf mir!
    „Mit dir reden.“ Ich stellte Flasche und Glas auf die auf Hochglanz polierte Schreibtischplatte. Sofort bemerkte ich meinen ersten Fauxpas: ich hätte einen Untersetzer mitbringen sollen. Mist!
    Er sagte jedoch nichts dazu, warf nur einen Blick auf das Flaschenetikett. Dann fragte er: „Worüber?“
    Herrgott, was für eine harte Nuss! „Das weißt du doch ganz genau. Über das von heute Mittag.“
    Er faltete die Hände auf der Tischplatte, schloss damit seinen Brustkorb vor mir zu – auch sein Herz? „Wieso sollten wir darüber noch reden?“ Schön, er warf mich nicht gleich raus, aber er biss auch verflixt noch mal nicht richtig an!
    „Weil wir klare Verhältnisse brauchen. Und Reden ist das, was wir beide am besten können. Mit Worten umgehen. Du als Apotheker und Verkäufer, ich als...“, Himmel, als was denn?,  „... als angehender Literaturstudent.“ So, jetzt war es raus. Entweder er schluckte den Köder, oder die Fahrt mit uns beiden war hier zu Ende.
    Er neigte sacht den Kopf zur Seite, hatte wieder dieses Lauern in der Stimme: „Soso, Literatur ... dann scheint ja alles klar zu sein. Du hast dich entschieden und machst, was du willst. Was ich will, spielt doch keine Rolle, oder?“
    Verdammt! – ‚Ruhig, Süßer, schreien nützt gar nichts.’ Christoph war wieder in meinem Kopf, klar und zuverlässig wie immer. Ich holte tief Luft, sah seine Diamantaugen vor mir, während ich das sagte, was ich mir vor zwei Stunden im Auto zurechtgelegt hatte:
    „Ich weiß nicht, ob
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