Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
Vom Netzwerk:
gesessen! Gemeinsam schauten wir auf die riesige Bücherwand gegenüber. Die meisten Bücher darin kamen mir bekannt, aber die wenigsten davon interessant vor. Steuern, Statistiken, Medizin, Verkaufsstrategien. Eigentlich hätten das meine Bücher werden sollen, aber ich mochte keines davon lesen!
    Nach einigen Minuten des Schweigens begann er schließlich zu sprechen, in gedämpftem Ton, als würde er jedes Wort genau abwägen: „Deine Mutter hat heute Nachmittag schon mit mir gesprochen. Quasi ein bisschen Vorarbeit geleistet. Ich weiß nicht, was heute Mittag passiert ist. Zwischen uns, meine ich. Ich hatte gedacht, es wäre alles klar gewesen, du wärst wie ich und wir könnten Partner sein. Partner zu meinen Bedingungen.“
    Das Bier in seinem Glas zitterte leicht. Er war unruhiger, als er mir den Anschein geben wollte, innerlich aufgewühlt, rastlos. Es hatte also auch in ihm gearbeitet. Doch im Gegensatz zu Christoph, der in solchen Situationen körperliche Anstrengung brauchte, um zu sich zu kommen, zog mein Vater die Einsamkeit und Stille seines Arbeitszimmers vor. Das hatte ich bisher nicht gewusst. Oder nicht wissen sollen. Oder mir noch nie Gedanken darüber gemacht. Aber mir entglitt der Gesprächsfaden; ich konzentrierte mich wieder auf seine Stimme:
    „Hmm, heute nun hast du mir eröffnet, dass du die Sache anders siehst. Hast einen Vertrag, den ich siebzehn Jahre lang mit mir selbst ausgehandelt hatte, binnen fünf Minuten einfach in der Luft zerrissen. Ich dachte: Oh Gott, was passiert hier bloß?! Wie soll das weitergehen? Wenn er jetzt ausbricht, alles hinschmeißt? Womöglich brennt er mit seinem Cousin noch durch! Ausgerechnet mit Christoph!“ Seine Stimme wurde etwas lauter, unkontrollierter. Schwang da bei dem Wort ‚Cousin’ auch Ablehnung mit?
    Vater sprach weiter: „Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben. Und Monica enttäuscht zu haben. Da bin ich ausgerastet. Wie ein Stier in der Arena, der sich in die Enge getrieben fühlt, mit fünf Speeren im Rücken. Christoph war quasi das rote Tuch, das vor meinen Augen wedelte. Verstehst du?“
    Ich nickte. Sonja hatte Recht gehabt. Sein Bild vom gepeinigten Stier faszinierte mich, auch wenn ich mich überhaupt nicht als Torero gefühlt hatte. Der PC brummte leise, und jetzt brummte auch wieder seine Stimme in sonorem Tonfall:
    „Ich weiß nicht, was genau in Christophs Familie vorgefallen ist, ich kenne seinen Vater nicht und auch nicht die Beweggründe für sein Handeln. Und ich kenne Christoph nicht. Aber ich kenne die Ängste deiner Mutter: vor dem Unbekannten, Ungeregelten, Andersartigen, das man nicht kontrollieren kann. Das sind auch meine Ängste. Vielleicht haben wir deshalb zusammengefunden. Ich habe ihr damals versprochen, ihr ein schönes Leben aufzubauen, ihr eine klare, solide Zukunft zu bieten, Kontinuität und Stärke. Sie hatte so gelitten unter der Situation ihrer Schwester, die allein mit einem Kind dastand, allein mit all den Schwierigkeiten und Sorgen, ohne Mann, ohne Vater. Das wollte ich für meine Frau nicht.
    Also habe ich gearbeitet, manchmal wie ein Tier, um uns das alles hier zu schaffen. Ich habe noch mal ein Aufbaustudium in Betriebswirtschaft und Rechnungswesen angefangen, abends nach meinem Dienst, habe dann den Laden aufgemacht, um mein eigener Chef zu sein, unabhängig, immer selbst die Fäden in der Hand. Das wollte ich natürlich schon immer machen, aber jetzt war es umso wichtiger für mich. Damit ich das Boot, wie du es so schön sagtest, selbst steuern könnte und überall den Überblick hätte. Den hatte ich dann aber über kurz oder lang doch verloren, und es nicht einmal gemerkt. Besonders, was dich betrifft.“
    Sonjas Worte! Ich zog den Hut vor Felix’ Flamme. Christoph hatte Recht, sie war ein Mensch, den man sich unbedingt merken sollte. Vorsichtig erspürte ich den Bierdeckel mit ihrer Nummer in meiner Hosentasche. Hoffentlich baute Felix keinen Mist mit ihr! Vater hatte in der Zwischenzeit einen Schluck getrunken und eine Weile wortlos in das Glas geschaut, wie um abzuschätzen, wie viel er davon noch trinken wollte – oder wie viel er mir noch sagen wollte? Er entschloss sich offenbar, weiterzureden:
    „Ich habe nicht gemerkt, wie oft deine Mutter allein dastand, weil ich beruflich unterwegs war. Ich war nicht da, als du deine ersten Zähnchen kriegtest und sie nachts stundenlang an deinem Bettchen wachte. Nicht da, als du die erste fünf nach Hause brachtest und sie dich trösten musste.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher