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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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Nicht da, als du solche Schwierigkeiten mit den Mädchen bekamst und ich mit dir hätte reden sollen. Da hatte ich versagt. Es tut mir leid.“ Er seufzte.
    Ich schluckte leise. Mein Vater bat mich um Verzeihung! Das hatte es bisher noch nie gegeben! Ich wagte nicht zu atmen, um ihn nicht zu erschrecken oder zu verärgern und damit wieder vor mir zu verschließen. Ich war jetzt voll konzentriert, dachte weder an Christoph noch Sonja oder Felix. Nur das jetzt und hier mit meinem Vater war in diesem Augenblick wichtig.
    „Ich habe irgendwie den Kontakt zu dir verloren und mir auf meinen Geschäftsreisen einen Sohn erträumt, der nicht zu dem passte, den ich zu Hause hatte. Das hast du mir heute ziemlich gnadenlos eröffnet. Du hattest Recht, ich habe mir in dir die Bestätigung für meinen Weg erhofft, indem du einmal das fortführst, was ich aufgebaut habe. Wie sagtest du: mir ein Denkmal setzen. Mich in dir verewigen. Will das nicht jeder Vater?“
    Damit hob er den Blick, den er bis jetzt auf das warme, goldene Funkeln in seinem Glas geheftet hatte, und sah mir direkt in die Augen. Für eine Sekunde fürchtete ich mich vor der stählernen Härte darin, doch jetzt schienen sie überhaupt keinen Glanz zu haben – wie zwei stumpfe, abgekämpfte Schwerter, die nicht mehr zustechen konnten – oder wollten.
    „Wenn mir heute eines klargeworden ist, dann das: meine Bildhauerzeit ist vorbei. Ich habe dich gezeugt, deine Mutter hat dich ausgetragen, und damit haben wir dich eigentlich freigelassen. Ein selbstständiges Wesen mit eigenen Gefühlen, Träumen und Ängsten. Das habe ich verkannt. Ich dachte, du bist mein Werk, und deshalb wirst du mir folgen, egal wohin. Das war falsch. Es tut mir leid.“
    Das war schon die zweite Entschuldigung an diesem Abend. Ich rührte mich nicht, senkte nur den Blick auf das Glas in meinen Händen. Die Schaumkrone sank langsam in sich zusammen. Vater trank wieder einen Schluck, dann atmete er tief durch. Irgendwie hatte ich das leise Gefühl, dass er sich gerade für oder gegen etwas wappnete, was jetzt gleich kommen würde. In mir begann es zu kribbeln.
     „Tja, und dann ging das mit deinem Cousin los. Ich hatte es zuerst nicht glauben wollen. Mein Sohn – schwul?! Das konnte nicht sein! Aber das Telefonat zu Weihnachten letztes Jahr war eindeutig. – Und deine E-Mails an ihn auch.“
    Mein Kopf fuhr herum. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Er hatte meine E-Mails gelesen?! Sich an meinem Computer vergriffen?! Meine persönlichsten, intimsten Geheimnisse ausspioniert?! DAS DURFTE DOCH NICHT WAHR SEIN!
    Ich konnte nicht verhindern, dass sich in das Entsetzen in meinen Augen auch Wut und Abscheu mischten. Vater biss sich auf die Lippen, dann redete er sofort weiter:
    „Ja, ich habe deine Mails ausspioniert, und dafür möchte ich mir noch heute am liebsten die Hände abhacken! Deine Mutter wusste davon nichts, ich habe es ihr erst heute gesagt, und sie hätte liebend gerne gleich die Axt geholt.“
    Ich konnte über seinen verzweifelten Versuch, die angespannte Situation mit Humor aufzulösen, noch nicht lachen. Der Schock saß zu tief. Ich hatte meine Korrespondenz mit Christoph nicht durch ein Passwort geschützt, weil ich mit solch einer Attacke nicht gerechnet hatte – dass er sich für meine privaten Angelegenheiten interessierte, die nichts mit ihm und seinem Job zu tun hatten. Welch ein Irrtum!
    Ich wusste nicht, ob mein Vater wirklich nachvollziehen konnte, was in mir vorging, aber es schien tatsächlich, dass er bitter bereute, was er getan hatte. Seine Stimme war jetzt nicht viel mehr als ein Flüstern:
    „Du hast mir immer vertraut, und ich habe das missbraucht. Das tut mir so leid.“ Die dritte Entschuldigung. „Du hast mich heute gefragt, ob ich nicht an dich glaube. Das Problem ist, dass ich momentan nicht mehr an mich selbst glaube.“ Er drehte mir den Kopf zu. In seinem Blick las ich Bedauern, Traurigkeit, Zweifel und Ratlosigkeit. Dann kam die alles entscheidende Frage: „Glaubst du denn jetzt noch an mich?“
    Schweigen.
    Ich nahm jetzt doch mal einen Schluck aus meinem Bierglas. Kühl und bitter rann mir die Flüssigkeit die Kehle hinunter, wie seine Offenbarung eben.
    Scheiße, das war hammerhart!
    Was sollte ich jetzt sagen? Ich trank noch einen Schluck, trank mir praktisch Mut an. Ich hatte das Gefühl, dass Vater mir für meine Antwort jetzt alle Zeit der Welt zu geben bereit war, und ich nahm sie mir auch. Ganz langsam fuhr mein Puls

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