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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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darin.
    Tante Melanie übte sich im Smalltalk: „Sag’ mal, hast du auch schlecht geschlafen, Christoph? Also der Jann sagt, er habe ...“
    „Ich habe geträumt“, unterbrach ich sie schnell und fixierte nun meinerseits Christophs Augen, „und ich glaube mittlerweile, dass es doch ein guter Traum war, ein sehr schöner sogar. Sehr anregend und befreiend. Richtig gut für so einen schönen Morgen.“ Damit schenkte ich Christoph mein verschmitztestes Lächeln, das ich für jene Momente in Petto hatte, in denen mir der Schalk richtig tief im Nacken saß. Um Christophs Augen bildeten sich kleine Lachfältchen. Er schmunzelte mich über den Rand seiner Kaffeetasse an und zwinkerte erleichtert und amüsiert, auch ein bisschen stolz.
    Ich allerdings setzte wieder eine ernste Miene auf und meinte in mitleidigem Ton: „Aber Christoph muss es wirklich nicht gut gehen. Er versucht gerade, aus seiner leeren Tasse zu trinken. Die Hitze der Nacht scheint ihm doch ganz schön zugesetzt zu haben.“
    Christoph blickte verdutzt in seine Kaffeetasse. Dann prustete er los. Tante Melanie kam mit der Kaffeekanne herüber. „Na ja, wenigstens scheint ihr euren Streit von gestern begraben und euch wieder vertragen zu haben.“
    „Nein, Tante“, grinste ich und hielt ihr meine Tasse hin, „schlimmer!“

 
    IV
    In der nächsten Woche hatten wir beide unheimlich viel zu tun. Ich verbrachte eine Menge Zeit in der Bibliothek, während Christoph nach seiner Arbeit im Architekturbüro die letzten Besorgungen für seinen Auslandsaufenthalt machte, Behördengänge erledigte und den Gepäcktransport organi-sierte. Wenn er mich dann nachmittags in der Bibliothek abholte, machte er meist einen ziemlich fertigen und angespannten Eindruck. Auf meine Frage, was denn los sei, antwortete er nur kopfschüttelnd: „Behörden.“ 
    Ich legte ihm dann tröstend den Arm um die Schultern und sah ihn einfach nur mitfühlend an. In den ersten Augenblicken war auch wirklich nicht mehr als freundschaftliches Mitgefühl und Verständnis für den Frust des anderen in mir. Aber wenn er mir dann in die Augen sah, in mich eintauchte und forschte, als suchte er etwas in meinem Innersten, begann es unter meiner Haut warm zu prickeln, mein Herz schlug schneller, meine Fingerspitzen wurden kalt trotz der sommerlichen Hitze. Meist ließ ich ihn dann rasch wieder los. Trotzdem schien es, als konnten wir diese zufälligen Berührungen, die körperliche Nähe und manchmal auch vorsichtigen Anzüglichkeiten in unseren Scherzen nicht vermeiden. Es war, als suchte jeder den anderen und wartete nur darauf, endlich von ihm gefunden zu werden.
    Es machte mir unglaublichen Spaß, mit Christoph zusammenzusein. Er zeigte mir die Stadt, die Uni, die Ecken, in denen er als Kind und dann als Jugendlicher gerne gewesen war. Ich lernte seine Welt kennen, reiste mit ihm im Zeitraffer durch sein Leben, nahm alles in mich auf, was er mir zeigen wollte. Trotzdem hatte ich ständig das Gefühl, dass dabei ein sehr großer, wichtiger Teil seiner Persönlichkeit vor mir verborgen blieb. Oder war das nur Einbildung? Ich konnte es nicht greifen, nicht mit Händen und schon gar nicht in Worten. Doch zunächst machte ich mir keine allzu großen Gedanken darüber. Viel wichtiger war, dass ich hier war, mit ihm zusammen, in ihm einen Freund gefunden hatte, der mich verstand, der auf mich einging, und mit dem ich etwas erlebt hatte, das sich die meisten Leute um uns herum nicht einmal in ihren kühnsten sexuellen Phantasien erträumen konnten.
    Abends, wenn ich allein in der Schwüle seines Zimmers auf seinem Bett lag und ihn nur fünf Meter von mir entfernt im Nebenraum wusste, kreisten meine Gedanken unablässig um ihn, und ich stellte mir immer wieder jene aufregende Nacht vor, in der Dinge geschehen waren, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Noch immer spürte ich seine Hände auf meiner Haut und empfand seine Wärme in meinem Mund. Ich fragte mich, ob wir das nicht wiederholen könnten, ob er auch an mich dachte, und ob er noch einmal zu mir kommen würde.
      Sechs Nächte lang geschah nichts. Freitag Abend hielt ich es nicht mehr aus. Barfuß und wegen der Hitze nur mit meiner kurzen Schlafanzughose bekleidet, schlich ich durchs Zimmer und öffnete die Tür einen Spalt breit. Christoph lag auf dem Bett, den Kopf in die  Hand gestützt, das Haar offen über die Schulter fließend, und las.
    Er hatte mir den Rücken zugekehrt, konnte mich folglich nicht sehen. Ich

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