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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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schier die Gläser zum Klirren bringen konnte. Schließlich schloss er die Augen und wandte sich ruckartig zur Treppe um: „Ich muss einen Moment allein sein. Jann, kann ich mal in mein Zimmer?“
    „Ja, natürlich, es ist doch deins“, antwortete ich verblüfft.
    „Danke. Bis später.“ Damit sprang er die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal, und zwei Sekunden später hörten wir nur noch die Tür mit einen kräftigen Rumms! zuschlagen.
    Ich blickte beunruhigt zu Tante Melanie. War das eben noch Christoph gewesen, der, den ich bisher kannte? Ruhig, souverän, gesammelt, beinahe cool? Solch heftige Gefühlsaus-brüche hatte ich bei ihm eigentlich nur erlebt, wenn wir miteinander... Na ja, aber das war etwas anderes.
    Tante Melanie seufzte: „Du weißt, wer da dran war?“
    Ich nickte und berichtete ihr mit wenigen Worten, was mir Christoph über Falk erzählt hatte.
    „Gut, wenigstens hat er schon mit dir darüber gesprochen.“ Sie setzte sich zu mir an den Küchentisch, faltete die Hände und knetete die verschränkten Finger nervös aneinander. Nach einer kleinen Weile begann sie zu erzählen:
    „Die Geschichte damals war nicht einfach für ihn. Ich wünschte, ich hätte eingreifen können, aber er war neunzehn, als das mit Falk losging, und ich war froh, dass er sich mir wenigstens anvertraute. Ich wollte Christoph nicht auch noch verlieren, so wie ich seinen Vater verloren hatte.“
    Ich spürte, dass sie die Geschichte eigentlich irgendwo in der Mitte zu erzählen begann, und auch nur einen Teil davon. Aber wenigstens versuchte sie, Licht in das Dunkel zu bringen, das mich gerade vollständig umgab. Es war auch das erste Mal, dass sie Christophs Vater erwähnte. Sie fuhr fort:
    „Christoph hat die Augen seines Vaters, und irgendwo in ihm schlummert auch dessen Wesen, das Wesen der Gaukler. Ich weiß es, und ich habe Angst, dass es ihn übermannt, wenn er gerade am wenigsten damit rechnet.“
    Ich verstand nicht, was sie damit meinte, aber ich wagte nicht, sie zu unterbrechen.
    „Ich machte es wie deine Mutter bei dir: ich beobachtete die Sache stumm, aber mit einiger Skepsis und setzte einfach auf die Zeit. Doch irgendwann war Falk plötzlich weg, und Christoph schien es das Herz zu brechen. Ausgerechnet in dieser Zeit musste er sich auf sein Vordiplom vorbereiten. Ich war furchtbar wütend auf diesen Mann, der meinen Jungen so durcheinander brachte und ihn dann einfach fallen ließ. Aber das sagte ich Christoph nicht. Ich sah zu, wie er ihn suchte, ermutigte ihn sogar ein bisschen dazu. Aber insgeheim hoffte ich, dass er ihn nie finden würde.“ Sie seufzte.
    „Doch dann kam der Brief aus Neuseeland. Christoph lebte wieder ein bisschen auf, schien neuen Mut zu fassen und hing doch nur mit einem Bein am Trapez. Und das Netz unter ihm war so dünn. Das Auslandssemester in Montreal sei seine einzige Chance, sagte er. Er wollte weg von hier, wo ihn alles an Falk erinnerte: die Hörsäle, der Campus, jeder Ort in der Stadt. Er wollte fliegen, wie ein Schmetterling einfach davon gaukeln.
    Dann kamst du hier an, und zum ersten Mal seit langem sah ich wieder Ruhe und Stetigkeit in seinen Augen, Aufmerksamkeit und Konzentration. Du hast ihn irgendwie wieder zurückgebracht, jedenfalls für eine Weile. Und heute nun der Anruf. Verdammt!“
    Sie schob ihren Stuhl geräuschvoll zurück und stand auf. Ich konnte das alles gar nicht richtig begreifen. Aber vielleicht war jetzt nicht der passende Augenblick, um danach zu fragen. Ich hörte Tante Melanie schniefen. Sie weinte! Unsicher ging ich zu ihr hinüber und legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. Meine Mutter hatte noch nie vor mir geweint, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
    Aber Tante Melanie tätschelte mir nur sacht die Hand und flüsterte: „Ist schon gut, mein Junge. Das sind nur die Erinnerungen, die manchmal so hochkommen. Vielleicht wirst du eines Tages die ganze Geschichte erfahren, aber nicht heute. Tu mir nur einen Gefallen …“ Sie sah mich mit zwei Tränen in den Augen an: „Halte den Christoph fest, wenn du kannst. Lass ihn nicht noch einmal fallen, ja? Ich weiß sonst nicht, was er dann macht.“
    Ich nickte, selbst einen Kloß im Hals. Ich hatte Angst.
    Was zum Teufel war hier nur los? Bis eben war alles noch so einfach gewesen, und plötzlich schien sich die reinste Tragödie abzuspielen! Und ich war mittendrin, ohne es bemerkt zu haben! Ich fragte mich, ob ich die Kraft haben würde, meine Rolle bis zum Ende

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