Wolkengaukler
weiß nicht so genau. Vielleicht noch aus dem Traum heraus. Es ist schon wieder weg, war vielleicht auch nicht so wichtig. Mach’s gut und einen schönen Vortrag!“
„Tschau, mein Süßer. Träum’ noch was Schönes.“
Ich loggte mich aus und fuhr den PC herunter. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich noch ungefähr drei Stunden Zeit zum Schlafen hatte. Die wollte ich unbedingt nutzen, der Mathetest morgen würde wahrscheinlich ziemlich schwierig werden.
Ich kroch in mein Bett zurück und versuchte, nicht an Christoph, seinen Körper und die Dinge zu denken, die ich mit ihm anstellen könnte, wenn er jetzt hier wäre. Das war ziemlich schwierig!
Kurz vor dem Einschlafen sah ich noch einmal die Bilder aus meinem Traum in mir. Und mir war, als hörte ich darin eine Mädchenstimme. Sie sprach Französisch. Christoph antwortete ihr. Auch auf Französisch. Was sie sagten, konnte ich nicht verstehen. Mit dem Klang seiner Stimme in meinem Kopf schlief ich ein.
Noch immer saß er tief in Gedanken versunken vor dem PC und starrte auf den blinkenden Cursor. Der Chat hatte ihn aufgewühlt, mehr, als er gegenüber seinem Cousin hatte zugeben wollen – und gegenüber sich selbst.
Am Ende war die Frage aufgetaucht, die er sich selbst schon unzählige Male gestellt hatte. Und eine Zeit lang hatte er geglaubt, die Antwort darauf zu kennen, unumstößlich, unausweichlich. Aber mittlerweile war die Sache nicht mehr so einfach. Doch war sie das jemals gewesen?
Anfangs hatte er wirklich vorgehabt, nicht wieder zurückzukommen. Er hatte das Auslandssemester nutzen wollen, um sich von seiner Mutter, seiner Heimat, seinen Wurzeln zu trennen, lokal und emotional.
Hier in der neuen Welt hatten er einen neuen Anfang wagen wollen. Er hatte hier lernen wollen, auf eigenen Füßen zu stehen, seine Möglichkeiten, Fähigkeiten und Grenzen auszuloten, sich an anderen Dingen als bisher auszurichten, neue Bande zu knüpfen, neue Wege zu gehen. Er dachte an die seelischen Qualen, die er hatte durchstehen müssen, als Falk plötzlich verschwunden war, an den sadistischen Spießrutenlauf, den er hatte durchmachen müssen, als er sich daheim seinen so genannten Freunden gegenüber offenbart hatte, an den nervenaufreibenden Bürokratismus, den er hatte überwinden müssen, um endlich in die Freiheit zu gelangen.
Und Kanada bedeutete für ihn tatsächlich Freiheit. Montreal hatte ihm aufgewartet mit einer schier überwältigenden ethnischen Vielfalt. Ein bunter Mix aus den Kulturen der ganzen Welt beeinflusste das Leben hier, und die Stadt war wie geschaffen dafür, aus dem Althergebrachten auszubrechen und etwas ganz Neues zu wagen. Nicht nur, dass er keinem außer sich selbst gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet war. Es interessierte hier schlichtweg niemanden, wer er war, wie er war, und warum er so war. Nur das hier und jetzt zählte. Natürlich gab es auch hier Regeln und Pflichten. Er lebte nicht ziellos in den Tag hinein, sondern nahm sein Studium sehr ernst und nutzte alle ihm zur Verfügung stehende Zeit für seine Arbeit. Das war er nicht zuletzt seinem Vater schuldig, mit dessen angespartem Unterhalt er dieses Auslandssemester teilweise finanzierte.
Bisher hatte er die Zeit mehr als gut genutzt, hatte die Architektur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts an den berühmtesten Bauwerken der Stadt hautnah studiert, hatte die Bank of Montreal, die älteste Bank Kanadas, besucht und im Pierre du Calvet House jede Menge beeindruckender Detailfotos geschossen, die er zu Hause analysieren wollte. – Zu Hause! – In der Notre-Dame-Basilica, für ihn ein Meisterwerk gotischer Architektur, war ihm vor Ehrfurcht eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken gekrochen, ein so intensives Gefühl, als würde er sich mit Jann dort - nicht weiterdenken!
Die offene, ungezwungene Stimmung um ihn herum, dieses ‚laisser-faire’, hatte ihn aufatmen lassen. In der Anonymität und Weite im Land der unbegrenzten Möglichkeiten konnte er für sich neue Chancen suchen, neue Ziele anstreben, neue Werte entdecken. Er hatte eine kleine Gruppe Studenten seines Semesters gefunden, mit denen er hin und wieder etwas unternahm, sich austauschte oder einfach nur zusammen war, um sich abzulenken. Aber wenn er nicht dabei war, war es auch okay. Niemand fragte nach dem wie und warum, er war akzeptiert, wie er war, wurde weder gegängelt noch gemieden.
Nebenbei jobbte er in einem Supermarkt, wo er Kisten auspackte, Waren einsortierte
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