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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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und hin und wieder auch an der Kasse aushalf. Nichts Umwerfendes, nichts zum Nachdenken, einfach nur für ein bisschen zusätzliches Geld und Bewegung nach den langen Stunden im Hörsaal. Er hatte ausprobieren wollen, ob er auch mit wenig gut auskommen würde, und gesehen, dass er von der Hand in den Mund leben konnte, wenn es darauf ankam. Aber sollte das immer so bleiben? Er seufzte.
    Zu Hause wartete seine Mutter auf ihn, die er über alles liebte. Konnte er sie allein lassen, nachdem sie ihm das alles hier überhaupt erst ermöglicht hatte? Sie, die soviel Geduld und Verständnis für ihn aufgebracht hatte, die ihm vertraute? Er dachte an seine eigenen Worte vor ein paar Monaten: „Meine Zukunft ist hier, ... ich möchte nicht bis zum anderen Ende der Welt fliehen.“ Sicher, in München würde er später wahrscheinlich nicht bleiben können. Aber Amerika war deutlich weiter von seiner Heimatstadt entfernt als eine Tagesfahrt mit dem Auto oder der Bahn. Und wenn er seinen ursprünglichen Plan tatsächlich in die Tat umsetzte, würde er überhaupt keinen festen Wohnsitz mehr haben.
    Er hatte vorgehabt, sein Studium hier zu beenden und dann seinen Vater zu suchen. Er vermisste ihn, so sehr, wie er es niemals gedacht hätte. Gleichzeitig war da aber auch eine unglaubliche Wut auf ihn. Warum war er plötzlich nicht mehr zurückgekommen? Hatte er seinen Sohn vergessen? Hatte er selbst irgendetwas falsch gemacht? War Vater etwas passiert? Er wollte das klären, musste Klarheit für sich selbst schaffen.
    Noch wusste er nicht, wie er die Suche anstellen, wo er sie beginnen sollte. Zugegeben, in diesem Punkt war sein Plan noch nicht ganz ausgereift. Aber wenn er seinen Vater irgendwann irgendwie gefunden hatte, würde er vielleicht sogar eine Weile mit ihm gehen, vielleicht für immer. Diesen Drang nach dem Unbekannten, dem Abenteuer, dem Kitzel des „Nicht-wissen-was-morgen-kommt“, hatte er schon länger in sich gespürt. Seit er hier auf der anderen Seite des Atlantiks war, war dieses Verlangen nicht befriedigt, sondern im Gegenteil noch genährt worden. Waren das noch immer nur die Träume eines kleinen Jungen? Oder doch das Erbe seines Vaters? Wie seine Augen, die die Welt manchmal so zu sehen schienen, wie sie sonst keiner zu sehen vermochte? Das hatte er nicht einmal seiner Mutter erklären können.
    Und dann war da noch eine unbekannte Variable in sein Leben getreten, jemand, mit dem er nicht gerechnet, der ihn völlig überrumpelt hatte: Jann.
    Vom ersten Augenblick an war er von seinem Cousin fasziniert gewesen. Und das betraf nicht nur die körperliche Liebe, die er mit ihm teilen konnte. Er dachte an Janns schlanken, sehnigen Körper, in dem eine Kraft steckte, von der Jann wahrscheinlich selbst noch nichts wusste. Er liebte diesen Körper und sehnte sich nach ihm, fast jeden Abend mit der gleichen, beinahe schmerzhaften Intensität. Auch jetzt legte sich seine Hand unwillkürlich in seinen prickelnden Schoß.
    Aber da war noch mehr gewesen: in der Sekunde, in der sie sich im Sommer auf dem Bahnsteig in München das erste Mal seit ihrer beider Kinderzeit wieder in die Augen geblickt hatten, hatte Jann seine Seele berührt. Er hatte ihn festgehalten, hatte seine Unrast besänftigt, seine Ängste vertrieben, seine Sehnsucht gestillt.
    Das hatte Falk nie geschafft. Er spürte jetzt immer mehr, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, ihn loszulassen – auch wenn es noch immer eine leise Sehnsucht in ihm weckte, wenn er an den ersten Mann in seinem Leben dachte. Noch immer tauchte Falk nachts in seinen Träumen auf; wenn er ihn dann sah, so wie er ihn in Erinnerung hatte, dann fühlte er immer ein unglaubliches Glücksgefühl in sich aufsteigen, Wärme und unbändige Freude. Doch immer öfter kam es vor, dass er ihn nicht mehr fand, wenn er durch die dunklen Korridore der Universität streifte und ihn suchte. Der Campus war verlassen, und genauso fühlte er sich dann auch, wenn er aus diesen schweren Träumen erwachte: einsam und verlassen. Aber dann kam immer die Erinnerung an Jann zurück, die ihn auffing, wärmte, wieder eintaktete in seinen eigenen Rhythmus. 
    Wenn er in Janns Augen sah, hatte er das Gefühl, zu Hause zu sein und nirgendwo anders hinzugehören. Konnte dieser Junge zu dem Mann werden, der für sein Leben bestimmt war? Und war er selbst auch für Jann bestimmt? Durfte er sich diese Chance vergeben und die Brücken hinter sich abbrechen, ohne noch einmal zurückzusehen? Wollte er

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