Wolkengaukler
‚Sagt man das so?’
Er setzte das Glas an die Lippen, aber im nächsten Moment war es leer. Er sah erstaunt zu ihr auf, und sie ebenso erstaunt zu ihm herunter. „Das nennt man Durst!“, scherzte sie. Erst jetzt spürte er die prickelnde Kühle in sich, nachdem das frische Wasser wohl tatsächlich seine Kehle hinunter in seinen Magen gelaufen war. Er hatte das ganze Glas in einem Zug leergetrunken, ohne es zu merken. Er war überhaupt nicht richtig beieinander.
„Tut mir leid – I’m really sorry, Ma’am“, murmelte er verstört.
„Kein Problem. Ich bringe Ihnen noch eins.“ Das zweite Glas trank er bewusster und nur bis zu Hälfte aus, und zwar erst, nachdem er ihr dankbar zugeprostet hatte. Sie stand noch immer abwartend an seinem Platz. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte sie.
„Ehm, ja, also, wenn Sie vielleicht eine Kopfschmerz-tablette hätten? Ich muss unbedingt irgendwie zur Ruhe kommen.“ Er hatte so etwas noch nie eingenommen und kam sich ein bisschen vor wie die einsame alte Dame in dem verwaisten Haus am Rande von New York.
Die Stewardess schüttelte bedauernd den Kopf: „Es tut mir leid, Sir, aber so etwas dürfen wir nicht an Bord führen. Aber ich kann Ihnen einen Tee zur Beruhigung anbieten. Okay?“ Zwei Minuten später kam sie mit einer Tasse voll dampfendem Tee zurück.
„Hier, versuchen Sie das mal. Meine Freundin schwört auf diesen Tee. Ich glaube, das ist jetzt genau richtig für Sie. Ich komme nachher noch einmal bei Ihnen vorbei, okay?“
Er lächelte sie an – dankbar und erleichtert, dass es an Bord so eine gute Seele gab. Ihre Fürsorglichkeit tat ihm gut, und eine schöne Stimme hatte sie obendrein. Sie gab ihm mit dem Daumen das OK-Zeichen und ging dann den Gang entlang nach hinten.
Vorsichtig nippte er an dem heißen Tee, zog dabei noch einmal seinen MP3-Player hervor. An Janns Mail war ein Anhang gewesen, offenbar eine Musikdatei, die er in der Eile im Internetcafé ungeöffnet auf seinen Player heruntergeladen hatte. Jetzt rief er sie auf, setzte die Kopfhörer auf und lehnte sich zurück. Es war tatsächlich ein Lied, das Jann ihm geschickt hatte, von seiner Lieblingsgruppe Bon Jovi. Ein Lied, das an sein Herz rührte, das genau in diese Situation passte, in der er sich gerade befand: „Who say’s, you can’t go home…’
Er lächelte, während er dem Text lauschte. ‚Mein Süßer! Gott, wie ich dich liebe!’ Mit diesem zärtlichen Lächeln auf den Lippen, Janns Musik in seinem Kopf und der wohltuenden Wärme des Tees in seinem Bauch schlief er endlich ein.
Als sie eine halbe Stunde später zu seinem Platz zurückkam, war er tatsächlich eingeschlafen. Einen Augenblick lang betrachtete sie sein Gesicht, die ebenmäßigen, jetzt entspannten Züge, das volle dunkelblonde Haar, die für einen Mann erstaunlich weich wirkenden Lippen, die geschlossenen Lider, hinter denen seine eisgrauen Augen verborgen waren. Was für ein außergewöhnlicher junger Mann!
Für sie waren die meisten Passagiere genau so pauschal wie die Reisen, die sie buchten. Aber dieser hier war anders, etwas Besonderes, und sie hatte das Gefühl, dass das nicht zuletzt von seinen ungewöhnlichen Augen herrührte. Wie er sie vorhin angelächelt hatte! Eigentlich ganz normal, freundlich, dankbar. Aber sie hatte das Gefühl gehabt, als hätte er sie mit diesem Blick emporgehoben und durch die Luft gewirbelt. Fast hätte sie vor Übermut aufgejauchzt wie ein kleines Mädchen. Hinterher war sie durch die Sitzreihen getaumelt wie ein Bienchen über eine Sommerwiese.
Dieser Mann hatte einfach das gewisse Etwas an sich. Sie konnte sich gut vorstellen, dass das Leben mit ihm aufregend und erfüllend, jeder Tag mit ihm inspirierend und voller Verlockungen sein würde. Sie fragte sich, ob zu Hause jemand auf ihn wartete. Eine Freundin, vielleicht schon Ehefrau? Kinder? Hoffentlich hatten sie dann seine Augen geerbt!
Am liebsten hätte sie ihm jetzt zärtlich über seine Wange gestrichen. Stattdessen nahm sie ihm vorsichtig das Buch aus den Händen, das ihm auf den Schoß geglitten war. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, was sich wohl dort unter dem Jeansstoff verbarg, und sie wünschte sich, es jetzt gleich und auf der Stelle hier entdecken zu können. Aber diesen Gedanken verbot sie sich schnell selbst wieder. Auf sie wartete auf der anderen Seite des Atlantiks tatsächlich jemand: ihr Mann, ihre Eltern, Freunde. Auf solche Phantasien mit einem Passagier
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