Wolkengaukler
durfte sie sich gar nicht erst einlassen.
Sie legte das Buch auf den freien Platz neben ihm. Dabei rutschte das Lesezeichen ein Stück weit heraus. Eigentlich war es kein richtiges Lesezeichen, sondern eher ein Notizzettel, auf dem eine Art Spruch handschriftlich geschrieben stand. Und eigentlich ging es sie gar nichts an! Aber sie war schon immer neugierig gewesen und fasziniert von allem, was sie zufällig entdeckte. Außerdem war der Zettel schon fast ganz herausgerutscht, und sie fühlte sich verpflichtet, ihn wieder richtig zwischen die Seiten zu schieben. Also nahm sie ihn zwischen zwei Finger und warf rasch einen Blick darauf:
‚Du bist, was du warst; doch du wirst sein, was du tust. Viel Glück! Dein Süßer’
Der Text war natürlich auf Deutsch. Die Schrift war eindeutig männlich, und die letzten beiden Worte auch in der grammatikalisch maskulinen Form gewählt. Sie ahnte, was das bedeutete.
Schade, aber dieser Mann war für die Frauenwelt verloren. Was für ein Jammer!
Aber offensichtlich schien ihm sein ‚Süßer’ das zu geben, was er brauchte: Wärme, Geborgenheit, Kraft und Verständnis – einfach, weil er sensibel genug war, ihm diese tiefsinnigen Worte auf seine lange Reise mitzugeben.
Sie seufzte kaum hörbar, steckte den Zettel zurück in das Buch und legte letzteres dann wieder neben ihm ab. „Gute Reise“, wünschte sie ihm in Gedanken, „und hoffentlich kommst du am Ende wohlbehalten dort an, wo du hingehörst, und er wartet dort auf dich und hält dich fest.“
Er war noch immer ein bisschen benommen, als er sich von seinem Sitz losschnallte und seine persönlichen Sachen zusammenpackte. Endstation Heimat. Zu Hause. Wirklich? Noch einmal einen Blick aus dem ovalen Plastikfenster: tatsächlich, das Flughafengebäude von München. Also los!
Er war der letzte, der das Flugzeug verließ, jedoch nicht ohne sich von der netten Stewardess zu verabschieden. „Good luck!“, wünschte sie ihm mit einem festen Händedruck. Er lächelte sie tapfer an, und sie gab ihm noch einmal das Okay-Zeichen. Er wusste, dass er mit seinem Lächeln in ihr unerfüllbare Wünsche und Sehnsüchte hatte aufkeimen lassen, aber das konnte er leider nicht ändern. Wie viele Mädchen hatte er damit schon ungewollt angemacht und dann wieder enttäuscht! Aber bewusst provozierte er diese Situationen nicht.
Langsam ging er durch den Zugangsschlauch. Er hatte kein Gepäck abzuholen, denn das hatte er mit dem Gepäckkurier abgeschickt; es würde in ein paar Tagen direkt zu Hause eintreffen. Trotzdem wartete er mit den anderen Passagieren am Förderband, um die Konfrontation mit der Realität noch ein paar Minuten hinauszuzögern. Mit dem letzten Passagier verließ er den Ankunftsterminal und betrat die Flughafenhalle.
Sein Blick raste umher. Überall waren Gruppen von Menschen, die sich begrüßten, umarmten, miteinander scherzten. Sie schienen alle glücklich zu sein. Er auch?
Dann sah er sie. Sie stand allein, seitlich neben der Absperrung, hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und blickte unverwandt zu ihm herüber. Seine Mutter!
Sie war da und wartete auf ihn. Sie war immer da gewesen, vom ersten Augenblick an, an den er sich bewusst erinnerte, und natürlich schon lange Zeit vorher. Und jetzt auch wieder! Sie war der einzige Mensch, auf den er sich verlassen konnte, wenn die anderen ihn verlassen hatten, immer. Sie war die einzige Konstante in seinem Leben gewesen – und schien es auch jetzt wieder zu sein. Er schloss kurz die Augen – und nahm sie dann wieder fest ins Visier: also gut, dann sollte es wohl so sein!
Die anfängliche Enttäuschung wurde von einem Gefühl unglaublicher Erleichterung hinweggefegt. Er ging auf sie zu, mit entschlossenen Schritten, nur ihre zierliche Gestalt und nichts anderes im Blick. Erst ganz dicht vor ihr blieb er stehen. Wortlos sahen sie sich einen Augenblick lang in die Augen. Dann flüsterte sie mit erstickter Stimme: „Oh Christoph, Gott sei Dank, du bist wieder da!“
Er zog sie in seine Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, während sie ihn fest an sich drückte und leise schluchzte. Er wiegte sie sanft wie ein Kind, so, wie sie es früher immer mit ihm getan hatte: „Schschsch...“. Mit der Zeit schienen sich die Rollen vertauscht zu haben. Gemeinsam spürten sie die Erleichterung und Befreiung, wieder beieinander zu sein, Mutter und Sohn, wie all die Jahre zuvor.
Schließlich löste sie sich aus seinen Armen und schob ihn sanft von sich
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