Wolkengaukler
der letzten sechs Monate begleitet hatte. Auch über diese riesige Entfernung hinweg hatten sie ihr Leben miteinander geteilt, sich in ihren Mails über alles ausgetauscht, was sie bewegte, was sie umtrieb: ihren Alltag, ihre Hoffnungen, Ärgernisse, Sehnsüchte. Dabei hatte es zwischen ihnen kein Tabu gegeben: sie hatten über die architektonischen Bauwerke des achtzehnten Jahrhunderts genauso diskutiert wie über Janns verstauchten Knöchel, hatten sich über Fausts Beziehung zu Gretchen ebenso offen ausgelassen wie über ihren eigenen Sex.
Dieses bedingungslose Vertrauen, diese ungezwungene Intimität waren es, die seine Beziehung zu Jann zu etwas Besonderem machten: er kam an ihn heran, und Jann war immer dicht bei ihm – etwas, das er in seinen bisherigen Beziehungen immer vermisst hatte. Über alle Grenzen hinweg waren sie miteinander verbunden, verstanden sich fast wortlos, und jeder war stets bereit, auf den anderen einzugehen, ihn zu hinterfragen, zu verstehen – und natürlich auch offen zu kritisieren. Er lächelte kurz. Mit der Kritik an seiner eigenen Person hatte er meist einige Schwierigkeiten. Aber Jann hatte eine besondere Art, sie ihn spüren zu lassen: verpackt in liebenswürdige Penetranz und mit zärtlicher Ironie geschmückt. Auch deswegen mochte er ihn so sehr. Bei diesen Gedanken kam der Schmerz zurück. Was hatte Jann ihm sagen wollen?
Er hatte vorgehabt, sich in New York noch einmal komplett abzunabeln. Kein Anruf, keine Mail, keine SMS nach außen, und keine zu ihm herein – nur er allein in dieser Millionenstadt. Natürlich hatte er den Aufenthalt auch für sein Studium genutzt, hatte Museen besucht, Bauwerke fotografiert, in Bibliotheken und Archiven gestöbert. Das hatte ihm fachlich sehr geholfen und ihn obendrein gut abgelenkt.
Aber in seiner Unterkunft draußen im Village, im Haus einer kunstinteressierten älteren Dame, mit der er gemeinsam zu Abend gegessen und sich über sein Studium und ihren Enkel unterhalten hatte, hatte er sich noch einsamer gefühlt als im Herzen der Metropole, deren Meer der Anonymität aus wildfremden Menschen, Straßengewirr und Verkehrsge-wimmel ihn beinahe überschwemmt hatte. Denn in der abendlichen Stille waren die Gedanken zur Ruhe gekommen, um dann wieder um so heftiger durch die Erinnerungen aufgepeitscht zu werden.
Er hatte Sehnsucht gehabt, nach zu Hause, nach seiner Mutter, seinem Zimmer und natürlich nach seinem Cousin. Und er hatte erkannt, dass er in der Fremde nicht glücklich werden würde, wenn und solange es ein zu Hause gab, wo er hingehörte und wo jemand auf ihn wartete. Er war offenbar doch anders als sein Vater, aber er wusste noch nicht, ob nun leider oder glücklicherweise.
Und dann, als Janns Ruf ihn erreicht hatte, hatte er kurzerhand diesem Heimweh nachgegeben, den nächsten Flug nach Deutschland gebucht und seine Mutter angerufen. Nur seine Mutter, denn er wollte den Abstand zu Jann noch so lange wie möglich aufrecht erhalten. Warum? Um doch noch umkehren und weggehen zu können, wenn Jann ihn enttäuschen sollte? Würde er das dann wirklich noch schaffen? Die Gedanken begannen, sich im Kreis zu drehen, und sein Kopf schmerzte. Er legte die Hände über die Augen und atmete ein paar Mal tief durch.
„Mister Kirchner, Sir? Is everything allright?“ Eine angenehm weiche Frauenstimme drang an sein Ohr. Er hob den Kopf und blickte prompt in zwei große, braun-grüne Augen, die von einem schwarzen Kajalstrich umrandet waren. Die Stewardess, die ihm vorhin die Zeitung ausgegeben hatte, sah ihn besorgt an. Er nickte langsam: „Yes, thank you, Mrs ...“ – ein kurzer Blick auf ihr Namensschild an ihrem Blazer –„Smith.“ Den Ehering an ihrem rechten Ringfinger hatte er vorhin schon bemerkt.
Sie schien seine Herkunft an seinem leichten Akzent bemerkt zu haben, denn sie wechselte sofort ins Deutsche: „Sie sehen sehr blass aus. Vielleicht der Kreislauf? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?“
„Ja, das wäre sehr nett, vielen Dank.“ Er musste sich langsam wieder an seine Muttersprache gewöhnen. In den letzten sechs Monaten hatte er ausschließlich Französisch und Englisch gehört, gelesen und gesprochen. Deutsch dagegen fast überhaupt nicht, abgesehen von den wöchentlichen Telefonaten mit seiner Mutter und den E-Mails mit Jann. Ein Stich im Herzen – da war er wieder.
Die Stewardess kam mit einem Wasserglas zurück. „Wohl bekomm’s!“, sagte sie und lächelte vorsichtig, als wollte sie fragen:
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