Wolkentaenzerin
der Truhe und griff nach dem nächsten Buch auf dem Stapel. Doch sie fand lediglich das unbeklebte Buch, das sie bereits gelesen hatte, nachdem sie im Juni das Haus der Martins verlassen hatte. Darunter lagen die Bücher, die sie schon kannte, und darunter war die ausgeblichene gestreifte Auskleidung der alten Truhe zu fühlen. Sie sah erst den Stapel in der Mitte durch und dann den auf der linken Seite, fand aber nichts Neues. Ihr Atem beschleunigte sich.
Sie kippte die Truhe auf die Seite und zog die Bücher zu sich heran. Das Aufsatzheft mit den Aufklebern. Der Einband vom College mit den geometrischen Formen, das Buch mit Pastellkreidestreifen und andere, die sie schon gelesen hatte. Sie legte sie alle nebeneinander und suchte nach einem, das sie vielleicht übersehen hatte, doch keines kam ihr unbekannt vor. Das Buch, das sie gerade beendet hatte, versehen mit dem Foto der lächelnden Elizabeth, wirkte wie eine Herausforderung: zuerst fade Details eines vorhersehbaren Lebens, dann verbotene Einzelheiten, die erhellten, wie Elizabeth vom Kurs abgekommen war. Weder das eine noch das andere hatte sich bewahrheitet.
Kate versuchte sich daran zu erinnern, wann – und ob – sie das fehlende Tagebuch in der Hand gehabt hatte, konnte sich aber nicht entsinnen, wie es ausgesehen hatte, genau genommen war sie sich gar nicht mehr sicher, ob sie überhaupt ein Tagebuch aus diesem Zeitraum gesehen hatte. Sie dachte, sie hätte eines aufgeschlagen, als sie damals auf dem Parkplatz am Motel gestanden hatte, und hätte ein Datum gesehen, das um Emilys Geburt herum lag, doch sie war sich nicht sicher. Aber es musste eines geben, wären doch sonst mehrere Monate bedeutender Ereignisse im Leben einer passionierten Tagebuchschreiberin nicht belegt.
Sie dachte an James, doch seitdem er herumgestöbert hatte, hatte er kein Interesse mehr an den Büchern gezeigt. Er war nicht einmal ein besonders guter Schnüffler, er hatte ja das Buch auf ihrem Bett liegen lassen. Piper konnte es nicht sein. Nicht nur konnte sie nicht lesen, sie verabscheute auch die Leiter, die in die Kammer führte, und mochte nicht einmal steile Stufen auf dem Spielplatz.
Kate ging hinunter ins Kinderzimmer. James’ Atem ging in rhythmisch sägenden Zügen, und Kate konnte sein Profil mit offenem Mund im Schimmer des Nachtlichts auf dem Kissen ausmachen. Sie sah unter seinem Bett nach, wo jedoch nur der Stoffdinosaurier lag. Öffnete seine Kommodenschubladen und seinen Schrank, schob seine Bücher mit den Zehen hin und her. Lauter kleine Taschenbücher, nichts mit Spiralbindung.
Kate ging ins Schlafzimmer zurück und hielt vorm Badezimmer inne. Chris duschte gerade. Er kam nicht in Frage. Er hatte ziemlich schnell das Interesse an den Tagebüchern verloren und machte sich mehr Gedanken darum, wie sie Kate beeinflussten, als über das, was drinstand. Gerade gestern hatte sie angefangen, über Elizabeths gemischte Gefühle zu reden, was ihre Mutterrolle anging, als sie mit den Kindern am Strand waren. Er hatte sie so geduldig wie ein Therapeut angesehen und dann den Kindern am Wasser zugeschaut.
»Chris? Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Ja«, hatte er erwidert. »Hast du gehört, was du gesagt hast?«
»Was soll das denn heißen?«
»Das soll heißen, dass du fast nur über dieses Thema sprichst, seitdem wir hier sind.«
Er hatte es mit einem Lächeln gesagt und ihr eine Handvoll Sand übers Schienbein gestreut.
»Ich weiß, dass sie dir fehlt. Aber findest du es nicht etwas seltsam, dass du dich so viel damit beschäftigst? Das sind unsere letzten paar Tage. Lass es auf sich beruhen.«
Er verscheuchte eine Fliege von ihrem Bein.
Es hatte sie geärgert, aber sie hatte keine Diskussion angefangen. Ihre Nähe seit seiner Rückkehr war süß und echt, und sie wollte sie nicht durch eine Abwehrhaltung zunichtemachen. Also stieß sie ihn mit der Schulter an, ein Friedensangebot, und lächelte traurig.
Nun aber erstarrte sie im Schlafzimmer, während sie auf die Dusche lauschte. Würde er das tun? Einfach nur, um es für den Rest ihres Urlaubs aus dem Weg zu schaffen? Im Badezimmer ertönte ein dumpfes Poltern, als die Seife herunterfiel. Sie zog vorsichtig Chris’ oberste Schublade auf und tastete sich mit den Fingern durch seine Socken und Unterwäsche; sie passte genau auf, um sie wieder so ordentlich hinzulegen, wie er es mochte. Dann suchte sie in der zweiten Schublade zwischen seinen Poloshirts. Im Schrank stand sein Koffer, in dem nur
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