Wolkentaenzerin
Wüstenkulisse – Sand, Himmel, herabstürzende Falken und dazu ein instrumentaler Soundtrack. Die Filmqualität war hervorragend, wie in einer Naturdokumentation. Das konnte Kate selbst auf ihrem alten Laptop erkennen, dessen Bildschirm voller Fingerabdrücke war.
In der Ferne kam ein hochgewachsener Mann hinter einem Kaktus hervor. Er trug Khakihosen, die mit der Wüste verschmolzen, und ein blaues Hemd im gleichen Farbton wie der wolkenlose Himmel.
»Was ist Ihre Bürde?«
Er stand ein Stück von der Kamera entfernt, doch die Worte drangen wie ein leichter Windhauch aus den Computerboxen.
»Haben Sie Schmerzen? Leiden Sie an einer Krankheit? An einer Depression?« Seine Stimme war wie die eines Radiosprechers, volltönend und beruhigend. »Wurde Ihnen von Ärzten mitgeteilt, dass Ihr Weg zur Gesundheit sehr schwer sein wird oder sogar unmöglich? Dass die Reise zur Heilung eine Behandlung erfordert, die Sie beinahe umbringen wird, und haben Sie Angst, dass Sie nicht stark genug sind? Und sagt eine leise Stimme in Ihrem Kopf Ihnen: Das stimmt nicht – es muss etwas geben, das Sie tun können, um stark genug zu sein, diese körperliche oder psychische Krankheit zu bekämpfen?«
Die Kamera schwang vom Mann weg und am Rande einer rot und braun durchfurchten Hochebene empor. Das visuelle Drama und das musikalische Crescendo vermittelten den Eindruck, dass man alle Probleme meistern und unglaubliche Höhen erklimmen konnte.
»Das gibt es.«
Die Kamera verließ die Hochebene und zeigte den Mann in Nahaufnahme, sein Gesicht und seine Schultern scharf umrissen vor dem hellblauen Himmel. Seine Augen waren faszinierend, mit Streifen von kontrastierendem Haselnussbraun und Grau, und wurden noch hervorgehoben durch seinen großen, glatten Kopf. Sein Schädel war sonnengebräunt und kräftig, und die Sonne schien förmlich daraus zu strahlen.
»Ich heiße Michael, und ich würde Ihnen gern dabei helfen, Ihrer Herausforderung zu begegnen. Kommen Sie nach Joshua Tree.«
Neunundzwanzig
Chris löffelte Zucker in seinen Kaffee. »Du hast ja ganz schön unruhig geschlafen letzte Nacht.«
Kate lehnte am Küchentresen und blätterte durch das Reisemagazin. Daneben lag der Zettel mit der Nummer, die sie vom Aura Institut aufgeschrieben hatte.
»Mein Zeh hat weh getan. Ich bin aufgestanden, um eine Tablette zu nehmen und hab dann ein bisschen ferngesehen.«
Sie wollte ihm nicht erzählen, was sie herausgefunden hatte. Er würde sie wieder so ansehen. Schon wieder die Tagebücher?
»Wir sollten angeln gehen. Wir waren kaum angeln diesen Sommer.«
Auf der anderen Seite des Zimmers versuchte James, seine Schwester von seiner Vorstellung des letzten Ferientags zu überzeugen. Sie wollte am größten Strand baden gehen.
»Du hast bloß Angst vor den Haken und den Fischmäulern«, stichelte er und ahmte die geöffneten Mäuler und großen Augen nach.
»Nicht streiten«, sagte Chris. »Wir können doch beides machen.« Er sah Kate an. »Wir könnten auf die Halbinsel fahren und was fürs Abendessen fangen. Die Kinder bekommen früh Pizza, und wir essen auf der Veranda, wenn sie im Bett sind. Wir könnten auch ein paar Sandklaffmuscheln unterwegs besorgen.«
Sie konnten sich auf einen entspannten Abend freuen. Das Haus war aufgeräumt, und sie hatten schon fast alles gepackt. Die Fähre ging morgen Mittag, und sie hatten noch Zeit bis zum späten Vormittag, um die Betten abzuziehen und das Auto zu beladen, bevor die Reinigungsmannschaft eintraf. Sie nickte.
»Hört sich gut an.«
Während die Kinder mit Chris zum Angelladen fuhren, um Köder zu besorgen, zog Kate sich an und trank ihren restlichen Kaffee. Der Wetterbericht hatte selbst für Anfang August hohe Temperaturen vorausgesagt, und Kate ging hinaus, um die Stiefmütterchen in den Trögen auf der Veranda zu gießen. Das Sonnenlicht fing sich im Krug aus geschliffenem Glas, als Kate an den Pflanzen entlangging und welke Blüten abpflückte. Violett und gelb, fuchsiafarben und weiß. Manche mit einem dunklen Fleck in der Mitte wie ein Auge. Kate ging ins Haus, um den Krug neu zu füllen, und als sie ihn unter den Wasserhahn hielt, warf sie einen Blick auf den Zettel auf dem Tresen.
Es klingelte dreimal, bevor ein Anrufbeantworter ansprang.
»Namaste. Es ist ein wunderschöner Tag in Joshua Tree. Vielen Dank, dass Sie das Aura Institut angerufen haben.«
Der Akzent der Frauenstimme war nicht einzuordnen, so wohlklingend wie Gesang. »Wir interessieren uns sehr für
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