Wolkentaenzerin
wie jeder andere auch. Ich brauche Karten und so, und manchmal biege ich falsch ab. Aber hier war ich schon ganz oft.«
Er verscheuchte eine Fliege, die auf seinem Müsliriegel landen wollte. »Das meine ich nicht. Wie hat Mrs Martin ihre Mutter verloren?«
Ah, das meinte er mit verlorengehen. Kate hörte auf zu kauen und versuchte nachzuvollziehen, was er wusste und woher. Das Tagebuch auf ihrem Bett neulich abends. Nicht die Babysitterin, sondern James.
Soweit sie wusste, war er bisher noch nie allein oben in der Dachkammer gewesen. Sie hatte den Kindern zwar flüchtig von der Truhe mit den Tagebüchern erzählt, doch James hatte kein Interesse gezeigt. Der Gedanke, dass ihr Sohn alt genug war, um die Tagebücher von jemand anderem zu lesen und sogar so viel davon zu verstehen, überstieg ihre Vorstellungskraft. Ihr Baby, das den ganzen Tag über geschlafen und nachts herumgelärmt, immer den Einsatz für Tag und Nacht verpasst hatte, grübelte jetzt über erste Spuren von Erwachsenentrauer nach. Wie geht eine Mom verloren? Von nun an würde sie die Truhe abschließen.
»Hast du das im Tagebuch gelesen? Bist du in die Dachkammer hochgeklettert zu meiner Truhe, die von den Martins?«
»Nein«, erwiderte er mit einem Mal wie beiläufig. »Das habe ich mir selbst überlegt.«
Sie hatte zu schnell reagiert und jegliche Vertrautheit verscheucht, die hätte entstehen können. »James.«
»Wirklich. Ich hab nur darüber nachgedacht. Darüber, wie Leute verlorengehen.«
Sie schwieg. Informationen von einem Kind zu erhalten war wie das Füttern eines schreckhaften Tiers.
»Ich bin nicht sauer, dass du es gelesen hast, auch wenn es nicht okay war. Ich bin nur überrascht, dass es dich überhaupt interessiert.«
Er biss erneut von seinem Müsliriegel ab und bückte sich, um an einem Mückenstich zu kratzen. Sie versuchte es noch einmal.
»Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich mich immer mit irgendwelchen Sachen versteckt, genau wie du. Unser Haus hatte nicht so einen tollen Raum auf dem Dachboden wie hier, aber meine Grandma hatte einen großen Wandschrank mit einem Fenster drin. Ich habe immer gern in dem Schrank unter ihren Kleidern gesessen und mir ihre alten Fotoalben angeschaut.«
Sie lehnte sich zurück und sah zu einem Lama, das auf sie zukam und dessen hocherhobener Kopf auf und ab wippte.
»Es ist irgendwie wie in einem Baumhaus da oben«, sagte James. »Als Piper gemalt hat, habe ich die Babysitterin gefragt, ob ich mein Buch mit nach oben nehmen darf und da lesen kann wie du.«
Kate betrachtete weiter die Lamas. »Aber dann hast du die ganzen Tagebücher mit den coolen Umschlägen gesehen.« Er nickte.
Das war eine der Gelegenheiten, die die Schule belehrbare Momente nannte, und Kate wog ab, welchen Erziehungsweg sie einschlagen sollte, »Respektiere anderer Leute Sachen« oder »Was es bedeutet, jemanden zu verlieren«. Verlieren gewann.
»Weißt du, was das für Bücher sind, James?«
»Ja. Das sind Geschichten von Mrs Martin.«
»So ungefähr. Sie hat über ihr Leben geschrieben, für sich selbst, darüber, was sie glücklich oder traurig gemacht hat.«
Er dachte darüber nach und stellte es in den Kontext dessen, was er über Bücher wusste. Büchereien, Geschichten. Erlebnisse, die für andere Leute aufgeschrieben wurden. »Warum hat sie die geschrieben?«
Kate hatte sich das ebenfalls gefragt. Vielleicht hatte Elizabeth das Bedürfnis gehabt, darüber zu schreiben, was sie erlebte und fühlte, vor allem, weil sie sich niemand anderem anvertraute. Oder vielleicht wollte sie die Bücher bewahren, wie um zu zeigen, dass all dies wirklich passiert war, dass es eine Bedeutung gehabt hatte.
»Manche Leute schreiben gern auf, was sie erleben und worüber sie nachdenken, damit sie sich später daran erinnern können, wenn sie älter sind.«
»Vielleicht damit andere Leute sich an sie erinnern können, wenn sie nicht mehr da sind.«
»Vielleicht.«
Er faltete das Papier von dem Müsliriegel zusammen und schob es unter einen Marienkäfer. »Schreibst du auch solche Bücher?«, fragte er.
»Nein.« Kate schüttelte den Kopf.
Der Marienkäfer kletterte über das gelbe Logo auf James’ Daumen zu, und Kate fragte sich, ob James wohl das Papier fallen lassen würde, wenn der Käfer ihn berührte, oder ob er ihn auf seine Hand krabbeln lassen würde. Fallen lassen wahrscheinlich.
»Vielleicht solltest du es aber«, sagte er, »damit wir uns auch an dich erinnern können, wenn du nicht mehr da
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